Die »Reiss-Bar« am Neuen Markt, als provokante Gegenthese zu herkömmlichen Bars konzipiert, wurde bald selbst zur vielfach kopierten Ikone – und zu einem Magneten für die Wiener Society.

Die »Reiss-Bar« am Neuen Markt, als provokante Gegenthese zu herkömmlichen Bars konzipiert, wurde bald selbst zur vielfach kopierten Ikone – und zu einem Magneten für die Wiener Society.
© Manfred Horveth

1980: Die Erfindung der Wiener Szene

40 Jahre Falstaff: Es musste erst eine Handvoll kreativer Individualisten kommen, um Wiens Nachtleben in den Achtzigern querzubürsten.

Mitunter geht ein Neubeginn auch mit einer kleinen Katastrophe Hand in Hand. Wien vor über 40 Jahren war eine trübe, graue Stadt, in der es kaum Gelegenheiten gab, Abende kulinarisch UND intellektuell anregend zu verbringen. Als zu Beginn der 1980er die traditionsreiche »Gastwirtschaft Koranda« in der Wollzeile für immer ihre Pforten schloss, verloren die kreativen Köpfe der Stadt einen ihrer Treffpunkte. Jeden Dienstagabend und Samstagnachmittag hatten sich dort Künstler, Medienleute und Geistesblitzer eingefunden und sich in stundenlangen Diskussionen ausgetauscht. Mit einem Mal war dieser Nukleus einer Szene heimatlos. Vergeblich wurden in einem Nachrichtenmagazin Unterschriftenlisten veröffentlicht, die den neuen Besitzer des Lokals, den Supermarkt-König Karl Wlaschek, erweichen sollten, das Stammbeisl in alter Form weiterzuführen. Das Rudel war heimatlos.

Urknall, Kernöl inklusive

Doch schon tauchten am Horizont Alternativen auf, die bald für eine belebte Innenstadt sorgen sollten. Unweit der »Gastwirtschaft Koranda« eröffnete vor 40 Jahren der Kunsthändler Kurt Kalb mit seiner Lebensgefährtin Evelyn Oswald in einem Greißler-Gewölbe in der Bäckerstraße ein Wirtshaus, das sie der Einfachheit halber »Oswald & Kalb« nannten. Er wolle einfach ein Gasthaus haben, das er selbst gerne besuche, begründete Kurt Kalb seinen Ausflug ins Gastronomische. Die Küche übernahm die steirische Verwandtschaft von Evelyn Oswald und machte die Stadt erstmals mit Kürbiskernöl bekannt, das irgendwie in fast jedem Gericht Verwendung fand.

Es war ein gastronomischer Urknall. In Windeseile entwickelte sich das nüchtern gestaltete Restaurant zu einem intellektuellen und kreativen Kraftzentrum der Stadt. Die verstreuten Künstler, Literaten und Vordenker fühlten sich magisch angezogen. Am Stammtisch im hintersten Raum des Lokals versammelte sich regelmäßig das Who’s who der geistigen Elite. Hier wurden heiße Debatten ausgetragen und kühne Pläne geschmiedet. Es war der Beginn einer neuen Zeit in der gastronomischen Landschaft von Wien.

Das »Oswald und Kalb« steht am Anfang der sogenannten Beisl-Revolution, die der damalige Wiener Vizebürgermeister Erhard Busek mit seiner Truppe, die sich selbstbewusst »bunte Vögel« nannten, angestoßen hatte. Die Idee dahinter war der Versuch, ein Netz von Lokalen zu schaffen, in denen die Wiener in einem durchaus bürgerlichen Ambiente gepflegte Abend­unterhaltung finden sollten. Dass ausgerechnet dort notorische Kritiker von Staat und Gesellschaft heimisch wurden, war keinesfalls Vater des Gedankens. Oder vielleicht doch – eine durchaus rebellische Szene verbürgerlichte zunehmend.

Lebhafte Ausgehviertel

Das Beispiel in der Bäckerstraße machte bald Schule. In einer Stadt, in der bis kurz zuvor abends noch die Gehsteige hochgeklappt wurden, schossen lebhafte Ausgehviertel und verstreute Hotspots für ein hedonistisch gesinntes Publikum aus dem Boden. Unweit des »Oswald & Kalb« öffnete ein Restaurant namens »Argentina« seine Pforten, das eine Zeit lang dafür bekannt war, nicht nur ein gehobener Treffpunkt einsamer Herzen zu sein, sondern seinen Gästen auch »Erfrischungen« der weniger legalen Art anzubieten. Ein Stück weiter etablierte sich ein anderes Zentrum für Nachtschwärmer. In der Weinbar »Enrico Panigl« dominierte mediterranes Lebensgefühl, unter der Flagge der kommunistischen Partei Italiens wurde oft bis zum Morgengrauen gefeiert.

In den ersten Jahren dieser Achtzigerjahre wurde auch ein zweites Ausgehviertel erschlossen, das bis heute Wien prägt. Die Gastronomin Monika Pöschl – die Schwester des Schauspielers Hanno Pöschl betrieb bereits eine Nachtbar – beauftragte den Architekten Hermann Czech, vis-à-vis der romanischen Ruprechtskirche über dem Donaukanal einen neuen Lokaltypus zu gestalten. Geschichtsbewusst nannte sich die Gaststätte »Salzamt«, da dort Jahrhunderte zuvor die Salzschiffer ihren Obolus zu entrichten hatten. In seiner an der Wiener Moderne geschulten gestalterischen Sprache entwarf Czech ein architektonisches Vorbild, das bald als Wiener Beitrag zur Baukunst galt. Rund um diese Pionierleistung herrschte in jenen Jahren im absterbenden Textil­viertel eher Geisterstimmung. Mit der Eröffnung des »Salzamt« erhielten die umliegenden Gassen eine Adrenalinspritze, die binnen kurzer Zeit dazu führte, dass in die dahinsiechenden Geschäfte, gerne abschätzig »Fetzenläden« genannt, ein breites Spektrum an gastronomischen Betrieben einzog.

Es war die Geburtsstunde des »Bermudadreiecks«, so benannt, da auf dieser Ausgehmeile immer wieder die Nachtschwärmer verloren gingen. In einen leer stehenden Laden gegenüber der Synagoge in der Seitenstettengasse zog das lässige »Ma Pitom« ein, gegründet von einem Marketingmanager. Es war ein Mittelding aus Szenetreffpunkt und einem Ort, an dem junge Leute abhängen wollten und in dem das gastronomische Konzept eher nebensächlich war. Für das Ausgehviertel aber sollte es stilbildend sein.

Auch ein weiterer Pionier interessierte sich bald für diese Vergnügungszone. Der Werber Michael Satke hatte in den Sechzigerjahren einige Jahre in London an der Modeschule studiert und sich als Hilfskoch durchgeschlagen. Nach Wien zurückgekehrt, vermisste er das Nachtleben an der Themse. »Wir jammerten über die damalige triste Ausgehsituation in Wien«, erzählte Satke einmal. Er entschloss sich zu handeln und schwatzte der alten Frau Reiss ihre Bar am Neuen Markt ab.

Das avantgardistische Architektenduo Coop Himmelblau übernahm die Neugestaltung und entwarf eine Antithese zu einer traditionellen Bar – es gab keine Rückzugsorte, alle Besucher mussten sich in öffentlicher Anonymität rund um einen quadratischen Tresen gruppieren. Und als absolutes weltweites Novum waren in der »Reiss-Bar« von Satke ausschließlich Champagner und Sekt (nebst einer Wodka-Marke) erhältlich. Das Konzept musste eine längere Durststrecke überwinden, bevor es einschlug. Dekadenz sollte zu einer alltäglichen Gewohnheit werden, das sah Satkes Idee vor. Und das überzeugte dann auch eine Wiener Oberschicht und viele Möchtegerne, die so taten, als würden sie dazugehören. Die »Reiss-Bar« wurde bald zum Fixpunkt nächtlicher Lokalrunden.

Abenteurer als Pioniere

Damit gab sich Satke allerdings nicht zufrieden. Er expandierte – natürlich ins Bermudadreieck. Am Rabensteig eröffnete er die ebenso von Coop Himmelblau gestaltete Wein- und Liedbar »Roter Engel«, in der allabendlich Musik geboten wurde. Die Qualität der lasziven Diseuse Ingrid Caven, die am ersten Abend auftrat, sollte in den folgenden Jahren allerdings nie mehr erreicht werden.

In nur wenigen Jahren hatte so eine Handvoll gastronomischer Abenteurer die Ausgehkultur von Wien auf den Kopf gestellt. Immer volles Risiko, immer voller verblüffender Ideen. Die Achtzigerjahre waren eine zweite Gründerzeit, die dem verschlafenen Wien den Weg ebneten, sich in eine pulsierende, moderne Metropole zu verwandeln.

Erschienen in
Falstaff Jubiläums Spezial 2020

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Joachim Riedl
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