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Gesund dinieren: Das «wann» fällt kaum ins Gewicht

Während «Dinner Cancelling»-Befürworter schon ans Bett denken, setzt man sich in Spanien erst zu Tisch. Wer lebt gesünder?
Die Wissenschaft sagt: Beim Essen zählt «was» und «wie» mehr als «wann». Und alles über einen Kamm zu scheren, schadet in jedem Fall.

Es handelt sich wohl um einen der beliebtesten Ratschläge rund ums Abnehmen und Gesund-Leben: «Am Abend wenig und leicht oder am besten gar nichts essen.» Beim «Dinner Cancelling» sind – je nach Quelle – ab 16 bis 18 Uhr nur noch kalorienfreie Getränke vorgesehen. Dadurch sollen sich durch die vermehrte Ausschüttung des Schlafhormons «Melatonin» und des Wachstumshormons «Somatropin» Anti-Aging-Effekte einstellen. Auch eine Gewichtsreduktion soll dadurch leichter funktionieren. Ob das tatsächlich mit der Uhrzeit zusammenhängt, wird aktuell unter dem Stichwort «Chrononutrition» zunehmend erforscht.

Der eigene Biorhythmus

Die Grundannahme dahinter ist, dass neben Licht und Schlafverhalten die Nahrungsaufnahme einen wesentlichen Taktgeber für den zirkadianen Rhythmus bildet. Demnach soll eine späte Mahlzeit dem Körper fälschlicherweise signalisieren, es wäre «noch Tag». Daraufhin bekommen die inneren Uhren, etwa in Leber, Darm und Bauchspeicheldrüse den Auftrag, das System nicht herunterzufahren, sondern auf Nahrungsverwertung eingestellt zu bleiben. Dadurch ist der Stoffwechsel gestört und man legt eher Gewicht zu. Isst man dagegen abends wenig bis nichts, wäre dieser Mechanismus umgangen. Fraglich bleibt, ob die Annahmen für Morgen- und Abendmenschen gleichermassen gelten. Denn denkbar ist freilich, dass ausgeprägte Abendmenschen auch auf späteres Essen eingestellt sind.

Ein Argument für die Nahrungskarenz am Abend ist jedoch der bessere Schlaf. Der spielt nämlich nicht nur generell für die Gesundheit eine wichtige Rolle, sondern ist auch für das Körpergewicht von Relevanz. Denn bei Schlafmangel kommen die beiden Hunger- und Sättigungshormone «Ghrelin» und «Leptin» aus dem Gleichgewicht. Doch ob man mit leerem oder vollem Magen besser schläft, ist individuell sehr unterschiedlich. Als Faustregel lässt sich sagen, dass die letzte Mahlzeit idealerweise etwa zwei bis drei Stunden vor dem Zubettgehen eingeplant werden sollte. Um welche Uhrzeit es sich dann handelt, hängt – wie so vieles andere auch – vom persönlichen Biorhythmus ab.

Die Summe der Kalorien

Ähnlich wie beim Intervallfasten ergeben sich beim «Dinner Cancelling» längere Zeitfenster, in denen nichts gegessen wird. Gründe für eine leichtere Gewichtsabnahme können demnach auch darin liegen. Denn wer das Abendessen ersatzlos streicht, spart unweigerlich Kalorien. Das ist eine simple Rechnung. In der Praxis konterkarieren jedoch unterschiedliche Kompensationsmuster den erwünschten Effekt. So essen manche noch kurz vor der «Deadline» eine üppige Mahlzeit, um abends gut über die Runden zu kommen und bringen sich auf diese Weise um das Minus bei den Kalorien. Andere wiederum werden von nächtlichen Heisshungerattacken überfallen.

Wissenschaftlich gesehen mehren sich zwar Forschungsergebnisse zum Timing des Essens und dessen Auswirkungen, aber es liegen weder umfassende einheitliche Belege dafür vor, dass «Dinner Cancelling» sich als besonders günstig erweist, noch dass sich das Essen am Abend erst recht ansetzt. Weder bei Kindern noch bei Erwachsenen. Nicht für grosse oder kleine Mahlzeiten. Die Datenlage ist somit widersprüchlich, was zur Schlussfolgerung führt: Das Timing des Essens allein wird nicht der grosse Hebel sein – das lassen auch Vergleiche auf nationaler Ebene und der Esskulturen vermuten.

Nimmt man das Auftreten von Übergewicht sowie Adipositas und der gesellschaftlich üblichen Zeit des Abendesssens her, so zeigen sich keine Parallelen. In den USA und Australien wird eher früh zu Abend gegessen, während sich in Italien und Spanien traditionell und klimabedingt der gesamte Tagesablauf weiter nach hinten schiebt und vor 21 Uhr selten etwas auf dem Tisch steht. Dennoch leben im englischsprachigen Raum weitaus mehr Menschen mit (starkem) Übergewicht. Wesentlich ist demnach nicht nur die Essenszeit. Sie scheint für den Körper und seine Verdauungsarbeit sogar eher nebensächlich zu sein.

Bewusster Genuss hilft

Daraus abzuleiten, dass spätes Essen somit gesünder ist, wäre dennoch falsch. Schliesslich spielen auch andere Faktoren für das Zu- oder Abnehmen und Wohlfühlen eine Rolle: die gesamte Tagesenergieaufnahme, das Schlafpensum, das Stress- und Bewegungslevel, eine gewisse Regelmässigkeit bei den Mahlzeiten und vieles mehr. Warum sich das Essen am Abend bei manchen ansetzt, liegt zum einen an der Auswahl. Eine Untersuchung der «Techniker-Krankenkasse» in Deutschland ergab 2017, dass jeder zehnte Deutsche gerne ab und an das klassische Abendessen gegen Chips tauscht. Auch Zeitmangel ist ein Argument: 64 Prozent der Berufstätigen gaben an, zu kalorienreichem schnellen Essen zu greifen, weil sie nicht genug Zeit haben, sich gesünder zu ernähren. Zum anderen verliert man bei angeregter Unterhaltung im Freundeskreis, kombiniert mit einem Glas Wein, schnell den Überblick und die tatsächliche Essensmenge wird rasch unterschätzt. Und schliesslich kommt noch das Knabbern vor dem Fernseher dazu. Gedankenverloren landen so nebenbei unzählige Kalorien im Magen, die als solche gar nicht richtig wahrgenommen werden. Und achtloses Essen zählt schliesslich zu den Schlüsselfaktoren für eine zu hohe Energieaufnahme.

Erschienen in
Falstaff Nr. 04/2022

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Marlies Gruber
Autor
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