Was wurde aus ... MATALI CRASSET
Seit fast 30 Jahren prägt die Französin Matali Crasset die Designwelt. Subtil und radikal stellt sie Sichtweisen auf Alltägliches auf den Kopf. Dabei arbeitet sie interdisziplinär und nicht selten an Schnittstellen zur Kunst.
29.11.2023 - By Manfred Gram
Der Schweizer Ort Zuchwil ist zurzeit eine Pilgerstätte für junge Männer. Hier geht Cheyne Lewin Hofer seinem Handwerk nach. Der 26-Jährige ist Friseur und TikTok-Star. Sein Ruhm begründet sich darauf, einen kontroversen Haarschnitt perfektioniert zu haben. Einen Topfschnitt mit kahl rasierten Seiten. Die Frisur heißt »Edgar« und soll auf den US-Baseballspieler Edgar Martínez zurückgehen. Beweisbilder dafür finden sich nicht wirklich. Besser wäre, man würde diesen Haarschnitt »Matali« nennen. Die französische Stardesignerin Matali Crasset trägt diese Frisur nämlich schon seit Jahrzehnten. Und davon gibt es ausreichend Fotobeweise. Denn der Haarschnitt ist, neben nicht minder eindrucksvollen Brillengestellen und eleganter, bunter Kleidung, Markenzeichen der 58-Jährigen.
Stil USP der Matali Crasset
Nur wenigen Menschen ist es vergönnt, einen persönlichen Stil mit hohem Wiedererkennungswert zu kreieren. Matali Crasset zählt zu diesem erlauchten Kreis. Man sollte aber auch erwähnen, dass sie weiß, wie die Codes und Mechanismen der Wiedererkennung funktionieren. Denn bevor sie ihre Vorliebe und ihr Talent für Design entdeckte, studierte sie Marketing an der École Nationale Supérieure de Création Industrielle in Paris. Die ausgebildete Industriedesignerin hat es aber nicht zu einer der weltweit wichtigsten Designerinnen gebracht, weil sie lustige Brillen trägt und die Haare cooler hat als Prinz Eisenherz und Mireille Mathieu. Sie liefert.
Museumsreif
Erste Erfahrungen holte sie sich bei Denis Santachiara in Italien und danach bei Philippe Starck, mit dem sie fünf Jahre zusammenarbeitete, ehe sie 1998 ihr erstes Atelier gründete. »Meine Arbeit als Designerin bewegt sich an der Schnittstelle von künstlerischer, anthropologischer und sozialer Praxis«, hält sie in Interviews gerne fest. Dementsprechend sieht sie sich auch als Zukunftsforscherin, die gerne Design-Komfortzonen verlässt und interdisziplinär arbeitet. Architektur und Setdesign sind ihr ebenso wenig fremd wie Projekte für Stadt- und Gemeindeverwaltungen. Dabei bricht die Französin, die 2006 bei der Pariser Möbelmesse zur Designerin des Jahres gekürt wurde, immer wieder mit Klischees. Auch weil ihre Objekte zwar stets dem täglichen Leben dienen, aber nie bloße Verbesserung von bereits Bestehendem sind. So sagt sie etwa über von ihr entworfenes Interior: »Meine Möbel beruhen auf neuen Konzepten und nicht auf Spielen mit doppelter Funktionalität. Sie erforschen neue Nutzungsgewohnheiten.«
Inspirationsquelle
Zwangsläufig landet man so irgendwann in Museen und Galerien. Vor allem wenn man wie Crasset immer wieder mit scharfem Blick Selbstverständlichkeiten hinterfragt oder Dinge auf den Kopf stellt. Wie etwa in ihrer Arbeit »Quand Jim monte à Paris« (»When Jim goes up to Paris«). Darin behandelt Crasset das Thema Gastfreundschaft – und zwar in Form einer Gästematratze, die platzsparend zusammengerollt und aufgestellt wird und so dann als Stehlampe fungiert. Muster müssen also gebrochen werden. Und das macht Crasset ebenso radikal wie subversiv. Da kann dann schon einmal, wie bei einem von ihr eingerichteten Hotel in Nizza, der Tisch zum Bett und das Bett zur Badewanne werden. Oder sie denkt sich für das Pariser Brillengeschäft »Les Belles Lunettes« eine Schaufenstergestaltung aus, in der die Ware auf rautenförmigen Metallvorhängen präsentiert wird. Auch dort zu haben ist übrigens Crassets neue Brillenserie »Now or Never« für die Marke Theo, die mit einem zweigeteilten Rahmen fassungslos macht. Der steht übrigens für die Weggabelungen des Lebens, wie die Designerin wissen lässt: »Folgt man dem vertrauten Pfad oder wagt man Schritte ins Unbekannte und landet dann wo auch immer?« Gute Frage.