Architekturporträt: Yvonne Farrell und Shelley McNamara
Das irische Architekturbüro Grafton plant öffentliche Kultur- und Bildungsbauten in aller Welt. Den beiden Pritzker-Preisträgerinnen Yvonne Farrell und Shelley McNamara ist vor allem eines wichtig: Sie wollen der Welt wieder Schönheit zurückgeben. Das Ergebnis ist eine besondere Art gebauter Geografie.
03.05.2024 - By Wojciech Czaja
Titelbild: UTEC-Campus, Lima: In der peruanischen Hauptstadt Lima schufen Yvonne Farrell und Shelley McNamara diesen Universitätscampus mit einer vertikalen Erschließungslandschaft aus Treppen, Rampen und Balkonen. Die Architektur selbst bezeichnen die beiden als »gebaute Geografie«. utec.edu.pe
Beton, Wege, Stützen, Säulen, Treppen, Rampen, Terrassen, Balkone mit Aussicht, dramatische Untersichten auf Rippendecken und bildhauerisch geformte Details, als hätte ein Riese mit Klötzchen und grauen Lego-Steinen gespielt. Der UTEC-Universitätscampus in Lima, Peru, nur wenige Hundert Meter vom Pazifik entfernt, nimmt sich an der schroffen Steilküste ein Beispiel und präsentiert sich als künstliches Abbild der Landschaft – mit abrupten Klippen und Kanten. Das 2015 fertiggestellte Bauwerk, eine Art vertikale Skulptur mit Hörsälen, Instituten und Universitätsbibliothek im letzten Stock, ist eine Liebeserklärung an den Baustoff Beton, zugleich aber auch zelebrierter öffentlicher Freiraum mitten in der Stadt, schließlich ist der UTEC-Campus tagsüber ohne Einschränkung für Besucher:innen zugänglich.
Urbane Geografie
»Wir hören oft, dass unsere Bauten sehr wuchtig sind, aber das ist sehr relativ, das sehen wir nicht so«, sagen die beiden Architektinnen Yvonne Farrell und Shelley McNamara. »Unser Anliegen ist es, mit dem uns zur Verfügung stehenden Material so viel Raum, so viel Nichts wie nur möglich zu bauen.« Das Ansinnen ist mehr als nur ein formales, sinnlich konzeptionelles, es folgt einem inneren Antrieb der Kompensation: »Immer mehr Menschen leben in Städten, gleichzeitig werden die natürlichen Räume aus unserem Lebensbereich mehr und mehr hinausgedrängt. Das bedeutet, dass sich – parallel zur natürlichen Geografie eines Landes – zunehmend eine gebaute, eine urbane Geografie entwickelt, die es auch zu gestalten gilt. Für uns ist Architektur nichts anderes als gebaute Geografie.«
Grafton: Eine Idee wird geboren
Begonnen hat das irische Architekturbüro, dessen Name sich vom allerersten Bürostandort in der Grafton Street in Dublin ableitet, mit öffentlichen Projekten im Inland, darunter vor allem Schulen, Kindergärten, Universitätsbauten und öffentliche Kultureinrichtungen. Mittlerweile findet man die künstlichen Geografien von Grafton über die ganze Welt verstreut. Zu den wichtigsten Projekten, die oft wie soziale Maschinen der menschlichen Begegnung im Stadtraum platziert sind, zählen die Università Luigi Bocconi in Mailand, die Medical School der University of Limerick, das Institut Mines-Télécom in Paris-Saclay, das Marshall Building der London School of Economics and Political Science sowie das Headquarter der Energiegesellschaft ESB in der Fitzwilliam Street im Herzen von Dublin. Mitten in kleinteilige Mietskasernen im georgianischen Stil mit mal gelblichen, mal rötlichen backsteingeziegelten Fassaden setzte Grafton ein 120 Meter langes XXL-Büromonster. Trotz seiner enormen Größe ist es den beiden Architektinnen gelungen, das Verwaltungsgebäude mit unterschiedlichen Ziegelverbänden, unterschiedlichen Fensterrhythmen und unterschiedlichen Zugangsportalen sehr fein zu strukturieren. Gelegentlich finden sich sogar runde Torbögen, Treppenaufgänge und vertikale Betonscheiben, die Anleihen bei historischen Steineinfassungen nehmen und den Eindruck erwecken, als würde das Haus hier schon seit ewigen Zeiten stehen.
Jahrhundertprojekte von Grafton
»Die Beschäftigung mit Architektur ist ein großes Privileg«, sagen Yvonne Farrell und Shelley McNamara. »Wir müssen mit den Implantaten, die wir in die Stadt setzen, daher sehr behutsam umgehen und uns dessen bewusst sein, dass unsere Häuser die Stadt die nächsten 100, 200 Jahre prägen und mitgestalten werden.« Für ihren sorgsamen Umgang und ihre brutalistische, groß-maßstäblich gigantische, zugleich überaus sensible Architektursprache wurden die beiden 72-jährigen Architektinnen, die das weltweit größte Architekturbüro unter weiblicher Doppelführung leiten, 2020 mit dem renommierten Pritzker-Preis ausgezeichnet. Wie sagen sie selbst? »Alles, was wir Planerinnen und Planer angreifen, hat ganz konkrete Auswirkungen auf die Erde. Jeder Handgriff ist mit einer enormen ökologischen Verantwortung verbunden, aber auch mit einer Verpflichtung, die Welt so schön wie möglich zu gestalten. Alles, was wir der Natur wegnehmen, müssen wir ihr in gewisser Weise auch wieder zurückgeben.«