(c) Maison Margiela

Design-Spektakel: Ein wahrhaftiger »fashion moment« unter der Brücke

Selbst, wenn man sich nicht für Mode interessiert, kam man an dem Abschluss der soeben zu Ende gegangenen Pariser Haute Couture Woche nicht vorbei. John Gallianos »Artisanal 2024«-Kollektion für Maison Margiela war wahrhaftig ein oftmals mythologisierter, derartiger »fashion moment«. Die Show war ein ästhetisches Fest und eine facettenreiche Sternstunde für Design-Fans.

29.01.2024 - By Verena Schweiger

Es gibt Momente, an denen alles stimmt. Die Location, das Set, die Musik, das Narrativ, die Protagonist:innen und deren Ästhetik. Die Haute Couture-Schau 2024 vom Avantgarde Label Maison Margiela war ein solcher. In einem Lagerraum unter der Pont Alexandre III gingen am Donnerstagabend die Pariser Haute Couture Schauen mit einem Paukenschlag zu Ende. Selbst gefeierte Medienstars, wie Kim Kardashian, gerieten zur Nebensache - eine wohltuende Abwechslung, kommt das Design doch zusehends ins Hintertreffen im Angesicht der prominenten Gäste. Anders bei Maison Margiela: Hier feierte das Design seinen Triumph und John Galliano seine endgültige Auferstehung. Als hätte das ganze nicht genug an Dramatik, fand das Defilee unter dem ersten Vollmond des Jahres statt. Publikum und Medien zelebrierten begeistert das erinnerungswürdige Design-Ereignis. Das Feuerwerk an Schneiderkunst, Designideen und Inszenierung wird in die Designgeschichte eingehen, soviel steht bereits jetzt fest.

Theatralischer Film Noir trifft auf Lautrecs Gestalten der Pariser Nacht

Analysiert man die Schau, so stößt man auf den Facettenreichtum ihrer Meisterhaftigkeit. Entwürfe, Textilien, Schnitte, Verarbeitungstechniken, Silhouetten, Make-up Design, Set und Performance waren allesamt präsent, ohne einander sprichwörtlich die Show zu stehlen. Ein stark emotionaler, sexuell aufgeladener Gestus gab den Takt der Lauftstegshow vor, die mit einem Film Noir, Tango-Moves und einem Diamantendiebstahl in den Untergrund der Pariser Nacht und an die Ufer der Seine entführte. Deformierte Halunken mit Zahnstocher im Mundwinkel, eine für John Galliano typische dekonstruierte Ästhetik und Elemente des Bondage waren dabei ebenso essentielle Performance-Elemente wie eine durch Hüftcorsagen und -polster stark akzentuierte Taille. Durch den bestickten Tüll und Lamé schimmerte nackte Haut hindurch. Latex, Prothesen und Lackoberflächen unterstrichen das sexuell aufgeladene Designvokabular. Die Entwürfe ausbalancierten Fragilität und Stärke in vollendeter Weise. Vor allem die gleichzeitige Verletzlichkeit und Aggression des männlichen Wesens wurde frappierend in Szene gesetzt. Nicht zuletzt durch die meisterhafte Choreographie von Pat Boguslawski, der schon länger mit Designer John Galliano zusammenarbeitet und auch dieses Mal das männliche Model und Galliano-Muse Leon Dame eindrucksvoll inszenierte. Die artifiziellen Kreaturen, die stark an die post-impressionistischen, gefallenen Gestalten aus den Gemälden von Henri de Toulse-Lautrec oder des Fauvisten Kees van Dongen erinnerten, wurden durch ein puppenhaftes, stark glänzendes Gesichtsmakeup von Pat McGrath einer noch stärkeren Künstlichkeit überführt. Technisch war die Kollektion ein Potpourri an Einfällen, Schnitttechniken und allerhöchster Schneiderkunst. High-Tech trifft auf old-school Schneiderei, könnte man sagen. Mit Silikon behandelte Stoffe, geleimter Tweed und in Schichten verarbeitete Organza- und Chiffon-Stoffe wurden teils ohne sichtbare Naht mit der Seamless-Technik arrangiert. Das letzte Modell wurde von »Game of Thrones«-Darstellerin Gwendoline Christie vorgeführt. Ein an Schnitttechniken reicher Entwurf aus transparentem Latex. Was folgte, war ein zu Recht tosender Applaus. Denn die Kreativität feierte sich selbst mit einem rauschenden Fest und setzte sich in Zeiten von Kriegen und Polykrisen kraftvoll über das Tagesgeschehen hinweg. Keine Spur von geducktem und einlullendem Wohlfühl-Kosmos, der derzeit sämtliche Design-Sparten bis hin zur Architektur umfasst. Dieser Kraftakt der poetischen Ästhetik und des fiebrigen, emotionalen Designs war ein non-chalenter Triumph des kreativen Muts, der die derzeitige feel-good Kultur scharf kontrastierte. John Gallianos Meisterwerk war ein Statement für ein emanzipiertes, selbstbewusstes Design und die unbedingte Relevanz der Kunst.

Die Rückkehr des Maestros zum zehnten Jahrestag

Designer John Galliano war einst der Superstar der Fashion Welt. Ab 1997 entstaubte er das im Luxus-Konglomerat LVMH firmierende Haus Dior, machte es sexy und stilbildend, führte es zu astronomischen Umsätzen, erfand Signature-Pieces wie die ikonische Saddle-Bag und löste mit seinen wandlungsfähigen Kollektionen globale Trends aus. Galliano ließ das damalige brasilianische Top-Model Gisèle Bündchen eingeölt und tiefbraun mit gelber Sonnenbrille und Tüllkleidchen überlebensgroß auf Flughäfen plakatieren, keine Selbstverständlichkeit denkt man an die knöchellangen Faltenröcke und exakt geschnittenen Jacken des Firmengründers. Er hielt der unterkühlten Erotik eines damals stark präsenten Tom Fords für Gucci eine juvenile Sexyness entgegen und reüssierte bei seinen Defilées im Angesicht von Branchengrößen wie Karl Lagerfeld oder Valentino Garavani Dank seines begnadeten Handwerks. Denn ähnlich wie sein Landsmann, das Londoner Enfant Terrible Alexander McQueen, hatte John Galliano die Schneiderei von der Pike auf gelernt. Die Modeschau unter der Pont Alexandre III erinnerte im übrigen an dessen einzigartige Schauen, die Modegeschichte schrieben. Seine private Person inszenierte Galliano stets exzentrisch gekleidet und sonnenkönighaft im opulenten Pariser Stadt-Palais vor der Kulisse eines echten Modiglianis. Seine Karriere fand 2011 ein abruptes, vorübergehendes Ende. Nach antisemitischen Äußerungen in seinem Stammlokal im Pariser Marais-Viertel, die ein Passant per Handy filmte und der Presse zuspielte, wurde er von Dior sofort entlassen, Ehrungen wurden ihm zurecht aberkannt, die Branche wandte sich schlagartig ab. Es folgte eine lange Abwesenheit. Der einst gefeierte und tief gefallene Maestro verschwand von der Bildfläche. Vor exakt zehn Jahren, 2014, kehrte er als Kreativchef der avantgardistischen Brand Maison Margiela zurück. Ein Mal Designer, immer Designer. Mit seiner »Artisanal 2024«-Kollektion schlug sich John Galliano nun selber zum aberkannten Ritterstand. Am 8. März 2024 kommt die lang erwartete Dokumentation »High and Low - John Galliano« über den kontroversen Designer in der Regie von Kevin Macdonald in die Kinos.

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