Tortenkunst: Skulpturen, die vergänglich sind
Wie funktioniert das ohne Architekturstudium? Nicht nur in Sachen Statik sind Kuchen mittlerweile filigrane Meisterwerke. Manche sehen so realistisch aus, dass erst der Test mit dem Kuchenmesser sicher macht, ob sie aus Zucker sind. In den sozialen Medien boomen diese süßen Kunstwerke.
29.11.2023 - By Karin Cerny
Header-Bild: Perfekte Kuchen Eine kreative Auslagengestaltung ist ein Markenzeichen der Traditionskonditorei »Demel«.
Was wäre Weihnachten ohne Schaufenster, die festlich dekoriert sind? Die Auslage der Wiener Hofbäckerei »Demel« zaubert nicht nur in Kinderaugen verlässlich ein Leuchten. Es sind vergängliche Kunstwerke aus essbarem Material, die sich der Chef-Patissier jedes Jahr für die Feiertage ausdenkt und damit eine schöne Tradition weiterführt. Bereits Federico Berzeviczy-Pallavicini, der glamouröse Besitzer des »Demel« bis 1972, machte die aufwendig-kreative Auslagengestaltung zu einem Markenzeichen des Betriebs. Für ihn waren die Auslagen des Cafés ein »Theater der Straße«.
LEBKUCHENDOM
Heuer hat man sich wieder selbst übertroffen: Aus Lebkuchen wurde mit viel Liebe zum Detail der Wiener Stephansdom, ein Wahrzeichen der Stadt, nachgebaut. 150 Stunden sind in den Entwurf geflossen, den zuerst ein Industriedesign-Team in Pappe ausprobiert hat, bevor die Lebkuchenteile einzeln hergestellt und dann mit Schokolade als Klebstoff zusammengebaut werden konnten. Bei Skulpturen wie dieser hat man ohnehin das Gefühl: Wie geht das ohne Architekturstudium? Sie türmen sich in die Höhe und bleiben dabei doch höchst fragil. Sie zelebrieren den Moment, erforschen die Grenzen des Machbaren. Und zeigen, dass man sogar mit Zucker die Gesetze der Schwerkraft aushebeln kann. »In den letzten Jahren konnte ich feststellen, wie Kund:innen immer mutiger und kreativer in Bezug auf ihre Wünsche geworden sind«, bestätigt auch die Wienerin Sophia Stolz, der als Stolzes auf Instagram 26.400 Menschen folgen: »Während es vor einigen Jahren noch erforderlich war, Cake-Art-Kreationen zu erklären, ist heute ein starker Trend erkennbar, bei dem alle nach mehr und noch extravaganteren Designs verlangen.« Vor allem große Fashion-Lables lieben Experimente mit dem Essen: Auf ihren Events gehören vergängliche Kunstwerke zur perfekten Gesamtinszenierung. Sie schaffen einen kreativen Rahmen, der über die Mode hinausgeht. So hat die Kuchenkünstlerin Stolzes für Hermès neun »Kelly Bags« aus Zucker geschaffen, die faszinierend realistisch ausgesehen haben. »Sie waren wie die meisten meiner Arbeiten nicht zum Verzehr vorgesehen«, erinnert sich Stolzes. »Bei einer Gelegenheit dachte eine Dame, eine der ›Kelly Bags‹ sei echt, und versuchte, sie anzuprobieren, was leider dazu führte, dass sie zerbrach und auf den Boden fiel.« Trotz der Zerstörung des Kunstwerks eigentlich ein schönes Kompliment. Auch Stolzes weiß, wie schwierig es ist, die Statik richtig einzuschätzen. »Gerade arbeite ich an einer Torte, die als ein Showpiece auf Säulen aufgebaut werden soll, was äußerst kompliziert ist«, erzählt sie. »Die Statik und die richtige Kühlung sind oft die Hauptprobleme, die es zu bewältigen gilt und die mich immer wieder vor neue Herausforderungen stellen.«
PANDEMIE-EXPERIMENTE
In der Pandemie wurde nicht nur Brot gebacken. Auf Instagram boomten Experimente mit Kuchen, die gern schräg sein durften. Sogar die »New York Times« brachte 2021 einen Artikel über diese »fantastisch unvollkommenen Torten«, die crazy, kreativ und vor allem überraschend sein sollen. Unter dem Suchbegriff »hyperrealistic cakes« entstanden auf Instagram und TikTok Kuchenkreationen, die Alltagsgegenstände in Zuckerform reproduzierten: Sneaker, ein Burger, ein menschliches Herz, ein iPhone oder sogar der eigene, lebensechte Kopf. Morbider Humor zog ins Kuchenbusiness ein. Erst durch den Schnitt mit dem Messer wurde klar, dass es sich um kein reales Objekt handelt. Ein Vorreiter dieses Trends ist der 32-jährige Chocolatier Amaury Guichon, dem auf Instagram sagenhafte 13,1 Millionen Menschen folgen. Der angesagteste Patissier der Welt wurde in Cannes geboren und lebt mittlerweile in Las Vegas und leitet dort »The Pastry Academy«. Sein Ziel: die optische Präsentation seiner Kreationen verfeinern, ohne dass der Geschmack zu kurz kommt. Seit 2016 ist er in den sozialen Netzwerken aktiv und schnell zu einem Star avanciert. Der schweizerisch-französische Pastry-Chef ist ein Meister der Details, Netflix hat ihm sogar eine Dokumentation gewidmet. Er zeigt, wie seine Kreationen, die mitunter gigantisch groß sind, hergestellt werden: Verschwindend klein wirkt er neben einer Giraffe oder einem Dinosaurier aus Schokolade. 250 Kilogramm schwer und über zwei Meter hoch ist sein Velociraptor-Saurier. Sechs Stunden brauchte er allein, um ihn zusammenzusetzen. Schokolade ist als Material auch haltbarer als diverse Kuchen: Bei richtiger Lagerung können seine Skulpturen 15 Jahre alt werden. Guichon steht für eine neue Generation an Patissiers, die ihre Kunst publikumswirksam in den sozialen Medien inszenieren – und dort vor allem junge Fans finden. Auch die heimische Cake-Artistin Stolzes sieht Instagram als perfekte Galerie für ihre süße Kunst. »Es hilft mir, ein internationales Netzwerk aufzubauen, und bietet mir auch eine Art Safe Space, in dem meine Arbeit von Menschen verstanden und geschätzt wird.« Als Guichon begann, stand das Medium Fernsehen noch hoch im Kurs. Der große Durchbruch gelang ihm 2013 durch die Teilnahme an der französischen Reality-TV-Show »Qui sera le prochain grand pâtissier?« (»Wer wird der nächste Meisterkonditor?«) Guichon wurde zwar nur Dritter, aber sieht sich mittlerweile als Botschafter für die Patisserie, die vor rund 200 Jahren in Frankreich ihren Siegeszug antrat. Alte Traditionen werden von Guichon einer Frischzellenkur unterzogen. So stirbt ein Handwerk nicht aus und bleibt auch für eine junge Generation attraktiv. Mit Essen spielt man eben gern.