(c) Chris Singer

LIVING-Salongespräch: Wie sozial wollen wir zusammenleben?

Immer häufiger errichten Bau-träger Gemeinschaftsküchen, Bibliotheken und Home-Cinemas und bieten ihren Mieter:innen soziale Betreuung in Form von Kennenlerntreffen, Stadtspaziergängen und Konfliktmanagement. Doch was von alledem ist sinnvoll und hilfreich? Und wo liegt die Grenze zur Zwangsbeglückung? Ein Gespräch mit Architekt Bernhard Weinberger, Bauträgerin Karin Kieslinger und Prozessbegleiterin Petra Hendrich.

08.05.2024 - By Wojciech Czaja

Titelbild: Eine Kaskade sozialer Wohngestaltung: (vl.n.r.) Petra Hendrich, Partnerin des auf soziale Prozesse spezialisierten realitylab, Bernhard Weinberger, Architekt und Partner bei WUP architektur und Karin Kieslinger, Geschäftsführerin des gemeinnützigen Wohnbauträgers EGW.

LIVING Wir sprechen heute über soziales Zusammenleben. Das hat auch mit sozialer Kompetenz zu tun. Auf einer Skala von null bis zehn: Wie sozialkompetent würden Sie sich selbst einstufen?

Bernhard Weinberger Was für ein steiler Einstieg! Ich sage sieben. Ich bin gerne sozialkompetent, das ist auch wichtig in meinem Beruf, aber eben nicht immer. Ich brauche auch Momente, in denen ich ungefiltert einfach nur ich sein kann.

Karin Kieslinger Einerseits erachte ich mich als sehr sozial und auch sozialkompetent, andererseits muss ich gestehen, dass ich als Geschäftsführerin eines gemeinnützigen Wohnbauträgers in einer sehr privilegierten Situation lebe. Ich bin nicht vor wahnsinnig große soziale Herausforderungen gestellt wie Menschen in anderen Berufen. Daher sage ich 7,5.

Petra Hendrich Ich sage sechs. Ich weiß, dass ich mich nicht in jeder zwischenmenschlichen Situation wohl fühle. Manche Konflikte versuche ich zu vermeiden. Und ich bin nicht gut im Streiten. Das können andere besser.

Kann man die Zehn je erreichen?

Hendrich Ich glaube nicht. Denn zu einer wirklich hohen Sozialkompetenz gehört wohl auch die Erkenntnis, dass man nie ausgelernt hat, dass man in sozialer, kommunikativer, zwischenmenschlicher Hinsicht ein ewig Lernender ist.

Wie sozial, wie allein, wie gemeinschaftlich sind Sie im eigenen Wohnen?

Kieslinger Ich finde Nachbarschaft extrem wichtig, und ich bemühe mich, das in meinem eigenen Alltag auch zu leben. Anklopfen, Eier ausborgen, Bohrmaschine herborgen, bissl quatschen, alles wunderbar. Aber dann ist es auch wieder genug. Dann fällt die Wohnungstür ins Schloss.

Weinberger Ich habe lange Zeit in Wohngemeinschaften gelebt, nicht nur als Single, sondern auch später mit Familie sogar bis zum sechsten Lebensjahr unserer Tochter. Es war eine tolle Erfahrung. Aber jetzt bin ich Mitte 50, die WG-Zeiten sind vorbei.

Hendrich In meinem beruflichen Alltag und in der Nachbarschaft liebe ich die Gemeinschaft, die Zusammenarbeit mit den Menschen, die konstruktive Reibung. Als Ausgleich dazu brauche ich im Wohnen meinen eigenen Rückzugsraum.

Weinberger Allerdings kann ich mir gut vorstellen, im Alter wieder in eine WG zu ­ziehen, als Senior unter Gleichgesinnten. Eine Alters-WG mit sozialem Netz, gemeinsamen Aktivitäten und gegenseitiger Hilfe. Eine gute Prophylaxe gegen Vereinsamung!

Kieslinger Das kann ich mir durchaus vorstellen. Da schließe ich mich an!

Die Prozessbegleiterin: Für Petra Hendrich, realitylab, sind Home-Cinemas und Gemeinschaftsküchen wichtige Einrichtungen, die die Bewohnerschaft zusammenschweißen.

(c) Chris Singer

Der Planungsexperte_ Für Bernhard Weinberger, WUP architektur, ist die soziale Komponente im Wohnen vor allem ein Wiener Phänomen. Technische Begleitung, meint er, werde immer wichtiger.

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Gewohnt haben wir immer schon. Und seit Tausenden Jahren tun wir dies in Städten, Dörfern und Siedlungen aller Art. Gibt es überhaupt so etwas wie ein nicht soziales Zusammenleben?

Weinberger Wohnen im Verband ist immer schon ein sozialer Akt gewesen – ganz gleich, ob im antiken Rom, im Mittelalter oder in der Renaissance. Besonders spannend finde ich die Entwicklung neuer Gesellschaftsmodelle im 18. und frühen 19. Jahrhundert, also im Dunstkreis der Französischen ­Revolution. Im Zuge dieser neuen Gesellschaftsmodelle des sogenannten »utopischen Sozialismus« sind auch neue Wohnmodelle entstanden, etwa Häuser mit Gemeinschaftsküchen und Kinderbetreuung.

Hendrich Das Modell des sozialen Zusammenlebens poppt im Laufe der Jahrzehnte und Jahrhunderte immer wieder auf! Ich denke da nur an die Arbeitersiedlungen, an die sogenannten Einküchenhäuser in den 1920- und 1930er-Jahren, in denen vor allem für Frauen eine Entlastung von der Care-Arbeit professionell organisiert wurde. Das Essen wurde teilweise mit dem Lift in die Wohnung gebracht. Ein absolutes Novum, damit die Frauen allein leben und einer Arbeit nachgehen können!

Kieslinger Die EGW wurde 1907 gegründet, und zu unseren allerersten Projekten zählten genau solche Arbeitersiedlungen. Die Begegnung und der Zusammenhalt in diesen Siedlungen waren ein elementarer Teil des Wohnens. Vor allem der Freiraum – also die Gärten, Innenhöfe, Spielplätze – war ein Ort der sozialen Begegnung.

So richtig mit Wäscheleine, Wäschespinne und Teppichklopfstange?

Kieslinger Ja, genau! Solche ganz einfachen Elemente sind wichtige Treffpunkte für soziale Interaktion. Auch wenn die Leute dank neuer, moderner Reinigungsmöglichkeiten ihre Teppiche nur noch selten ausklopfen, so tun dies manche nach wie vor! In den meisten Fällen haben wir die Teppichklopfstangen bewusst erhalten – nicht zuletzt als Zeitzeugen einer alten Wohnkultur.

Weinberger Außerdem sind Teppichklopfstangen perfekte multifunktionale Turn- und Spielgeräte für Kinder und Jugendliche!

Kommen wir in die Gegenwart: Seit wann blicken wir auf das Wohnen und Arbeiten mit einer sozialen Brille im heutigen Sinne?

Weinberger Das war ein schleichender Übergang. Bis circa 2005 haben wir bei uns im Büro relativ klassisch ausgestattete Wohnhausanlagen geplant. Manchmal hatten die Häuser nicht einmal Gemeinschaftsräume. Doch um 2005 herum hat bei den Bauträgern und Auftraggeber:innen die Sensibilität für die Thematik zugenommen, und plötzlich standen auf der Wunschliste nicht nur Gemeinschaftsräume, sondern auch Gemeinschaftsküchen, Fitnessräume, Bibliotheken, Spa-Bereiche und sogar Home-Cinemas.

Hendrich So richtig virulent wurde das Thema 2009, als die Stadt Wien neben der baukulturellen, ökonomischen und ökolo­gischen Nachhaltigkeit als vierte Säule die soziale Nachhaltigkeit eingeführt hat.

Wie ist die Situation bei der EGW?

Kieslinger Unsere ersten Gemeinschaftsräume im heutigen Sinne haben wir in den 1990er-Jahren errichtet. Aber ich teile die Erfahrung mit Petra Hendrich und Bernhard Weinberger: So richtig angefangen hat die Thematik erst Mitte, Ende der 2000er-Jahre. Heute sind die Sozialräume Teil unserer DNA. Wir verkaufen unsere Häuser ja nicht, sondern behalten sie als Mietobjekte in unserem Portfolio, daher sind wir um eine gute Nachbarschaft, um ein gutes soziales Zusammenleben unserer Mieter:innen bemüht.

Und Gemeinschaftsräume helfen dabei?

Kieslinger Ja. Nachbar:innen eine Möglichkeit zu geben, sich zu treffen, ist enorm wichtig.

Hendrich Man darf nicht vergessen: Die am stärksten eskalierenden Konflikte gibt es im Nachbarschaftsbereich. Auf der Konfliktskala – das wissen wir aus Erfahrung – kommen nachbarschaftliche Konflikte manchmal in den Bereich von zehn, also Alarmstufe Rot.

Warum bergen Nachbarschaften so ein hohes Konfliktpotenzial?

Hendrich Weil ich dem Nachbarn, der Nachbarin nicht aus dem Weg gehen kann. Im Gegensatz zu Familie, Beziehung und Wohngemeinschaft teilt man mit den Nachbar:innen oft nicht das Geringste – und dann ist man gezwungen, Tür an Tür mit einem Menschen zusammenzuleben, den man womöglich nicht ausstehen kann. Gemeinschaftsräume sind ein Angebot, um gemeinsame Interessen zu ­finden und sich zu arrangieren.

Auch Home-Cinemas?

Hendrich Sie können sich gar nicht vor­stellen, wie wichtig solche Hauskinos sind! Und zwar weniger zum gemeinsamen Filmeschauen als vielmehr zum Computerspielen und vor allem für die Live-Übertragung von Sportsendungen. Das schweißt zusammen!

Weinberger Sobald die Sporttermine ­feststehen, sind die Home-Cinemas meist schon Monate im Voraus ausgebucht.

Kieslinger Wichtig ist auf jeden Fall, dass die Räume in der Wohnhausanlage eine attraktive Lage haben. Also nicht fernab vom Schuss irgendwo im hintersten Eck des ­Stiegenhauses, sondern prominent beim Haupteingang, großzügig verglast, sodass sich die sozialen Tätigkeiten im Haus auch im Stadtbild abzeichnen.

Gibt es eigentlich Unterschiede zwischen ­gemeinnützigen und gewerblichen Bauträgern? Zwischen Stadt und Land?

Weinberger Die Gemeinnützigen haben die Nase vorn, allein schon wegen der Verpflichtung zur sozialen Nachhaltigkeit. Bei gewerblichen Bauträgern wird in diesem Bereich meist der Sparstift angesetzt.

Kieslinger Ich kenne aber auch Projekte im freifinanzierten Bereich, wo sehr ambitioniert Gemeinschaftseinrichtungen umgesetzt werden! Fitnesscenter, Boulderhalle, Gemeinschaftsküche und so weiter. Und meistens werden ­diese Projekte auch genau damit beworben.

Weinberger In anderen Städten, geschweige denn im ländlichen Raum, findet man viel weniger Gemeinschaftsräume. Wien ist hier wirklich ein Frontrunner. So sehr, dass sogar Bauträger aus Deutschland immer wieder Exkursionen nach Wien machen, um das
»Wiener Modell« auf ihre eigenen Unternehmen zu übertragen.

Wir haben jetzt über unterschiedliche Arten von Gemeinschaftsräumen gesprochen, also von der Hardware. Frau Hendrich, Sie kümmern sich mit Ihrem Unternehmen realitylab vor allem um die soften Faktoren.

Hendrich Ja, wir beraten und begleiten Bauträger und Architekt:innen und sind für die Entwicklung und Implementierung sozialen Mehrwerts zuständig. Diese Komponente wird unserer Beobachtung nach immer wichtiger. Daher werden Unternehmen mit einer sozialen Expertise wie wir meist schon in der Entwurfsphase mit an Bord geholt.

Welche soften Faktoren umfasst Ihr Tätigkeitsbereich?

Hendrich Kennenlerntreffen, Community-Building, gemeinsame Grätzelspaziergänge, Konfliktmanagement, aber auch moderierte Prozesse, um etwa Gemeinschaftsräume gemeinsam einzurichten und Aktionen in der Nachbarschaft aufzusetzen und zu ­koordinieren.

Kieslinger In der EGW versuchen wir, je nach Projekt einen Mix aus den richtigen notwendigen Aktivitäten zu setzen. Bei starken, gut funktionierenden Hausgemeinschaften kann das sogar so weit gehen, dass sich die Bewohner:innen selbst um die Suche und Auswahl eines neuen Mieters, einer neuen Mieterin kümmern. Das klappt sehr gut.

Welche Rolle spielen neue Technologien?

Weinberger Ob Passivhaus, Betonkern­aktivierung oder kontrollierte Wohnraum­lüftung, auch solche Dinge müssen kommuniziert werden. In einem Haus mit Betonkern­aktivierung kann ich nicht einfach mit der Schlagbohrmaschine ein Loch für den ­Lusterhaken in die Decke bohren, denn dann bohre ich womöglich eine wasserführende ­Leitung an. Es braucht also auch eine Art Bedienungsanleitung fürs Haus.

Hendrich Das sind auch gute Anlässe, um sich im Wohnhaus auszutauschen und so gemeinsam zu lernen. Nebenbei entwickelt sich eine unterstützende Nachbarschaft.

Prozessbegleitung hin oder her: Manchmal stehen Gemeinschaftsräume leer, manchmal werden die besten Angebote nicht genutzt. Was tun?

Kieslinger Wir bemühen uns, solange es geht, das Angebot aufrechtzuerhalten. Bei manchen Projekten braucht man einen ­ziemlich langen Atem. Aber es zahlt sich aus.

Weinberger Manchmal habe ich das Gefühl, dass das Angebot für manche Menschen zu viel ist, dass sie sich überfordert oder zwangsbeglückt fühlen. Meine persönliche Meinung dazu ist: Es soll sich niemand gezwungen fühlen, Gemeinschaft zu leben. Manche wollen einfach nur wohnen, und auch das ist okay.

Hendrich Das muss man auch akzeptieren! Unsere Begleitprozesse nehmen alle mit, die mitmachen wollen, und lassen diejenigen in Ruhe, die das nicht wollen.

Welche Trends und Innovationen sehen Sie auf uns zukommen?

Weinberger Nachhaltigkeitsthemen: Reduktion, Verkleinerung, Gemeinschaftsräume, Sharing Economy sowie – in bestehenden Wohnhäusern – die Implementierung einer zentralen Energieversorgung.

Hendrich Ich sehe leider einen negativen Trend, und zwar zunehmend Videoüber­wachung, um Vandalismus einzudämmen, sowie das Sanktionieren und aktive Ausschließen bestimmter Bewohner:innen­gruppen aus der Community. Die politischen Tendenzen schlagen sich auch im Wohnen nieder. Das bereitet mir ehrlich gesagt Sorgen.

Kieslinger Noch sind wir eine egoistische Wegwerfgesellschaft mit vielen einzelnen Partikularinteressen. Ich hoffe, dass bald eine Trendumkehr zu mehr Gemeinschaft kommt.

Abschlussfrage: Von welchem sozialen Raum träumen Sie?

Hendrich Überschaubare Stiegenhäuser.

Kieslinger Urban Gardening für alle.

Weinberger Einfach sagen, fragen, machen dürfen, was man will, solange man niemand anderen damit in dessen Freiheit einschränkt.

Und was würden Sie nie und nimmer wollen?

Hendrich Im Hochhaus wohnen. Ich ­hasse lange Liftfahrten, wo alle eine Minute lang peinlich auf den Boden runterschauen. Weniger Lifte!

Weinberger Umdenken! Lifte als Gemeinschaftsräume!

Kieslinger Eine Sauna, wo die Leute schon nackt durchs Stiegenhaus spazieren.

Die Errichterin_ Karin Kieslinger, Geschäftsführerin des Wohnbauträgers EGW, legt großen Wert darauf, dass Gemeinschaftsräume zentral liegen und attraktiv gestaltet sind.

(c) Chris Singer

DIE GESPRÄCHSPARTNER:INNEN

Petra Hendrich (39) studierte Architektur und Soziologie in Wien und absolvierte eine Ausbildung zur Mediatorin und soziokratischen Moderatorin. 2010 gründete sie gemeinsam mit Gernot Tscherteu das Unternehmen realitylab, das auf Dienstleistungen im Bereich Moderation, Baugruppen, Projektentwicklung, Konfliktmanagement und soziale Begleitung in Wohnprojekten spezialisiert ist. Zudem ist sie Gründungsmitglied der Wohnbaugenossenschaft Die WoGen. realitylab.at

Bernhard Weinberger (58) studierte Kunstgeschichte und Architektur in Wien und gründete mit Andreas Gabriel und Helmut Wimmer 2014 das Büro WUP -architektur, das auf sozialen, aber stets innovativ weiterentwickelten Wohnbau spezialisiert ist. Er war über zehn Jahre Lehrbeauftragter am Institut für Wohnbau der TU Wien und ist Mitglied im Qualitätsbeirat für geförderten Wohnbau in Oberösterreich. wup-architektur.com

Karin Kieslinger (47) studierte Architektur an der TU Wien und war bis 2012 in diversen Planungsbüros tätig. Danach wechselte sie auf die Seite der Projektentwicklung. Seit 2014 ist sie in der gemeinnützigen Wohnungswirtschaft tätig, seit 2020 ist sie Geschäftsführerin des gemeinnützigen Wohnbauträgers EGW. Aktuell hat sich die EGW in ihren Projekten dem Thema Sanierung, Care and Repair verschrieben. egw.at

Erschienen in:

Falstaff LIVING 02/2024

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