(c) Petra und Paul Kahlfeldt Architekten

Ciao Contemporary: Sehnsucht nach klassischer Architektur

Immer nur weiß, nüchtern und minimalistisch ist zu wenig. Immer mehr Menschen sehnen sich nach einer Rückkehr klassischer Schönheit – mit Gesimsen, Rundbögen und gemauerten Backsteinfassaden. Und: Der konservativ-traditionalistische Gegentrend ist bei Weitem kein Einzelfall.

15.05.2024 - By Wojciech Czaja

Titelbild: »Haus S«, Kempen: Sieht so die Zukunft des Wohnens aus? Das »Haus S«, ein kürzlich errichteter Neubau in Kempen, Nordrhein-Westfalen, folgt einem klassischen Architekturkanon mit Dachgauben, Mittelrisalit und ionischen Säulen. Im Jänner 2022 wurde dessen Architektin Petra Kahlfeldt zur Berliner Senatsbaudirektorin bestellt. Die Ernennung erregte viel Kritik. kahlfeldt-architekten.de

Die Fassade ist in ein Kleid aus 594.443 handgefertigten, grau gebrannten Ziegeln aus Dänemark gehüllt, immer wieder wölben sich bis zu zehn Meter hohe, an Antoni Gaudí erinnernde Bögen über Balkon- und Terrassenlufträume in der Fassade, als krönendes Finale schließlich – in einer Reminiszenz an Chrysler Building, Rockefeller Center und Empire State Building – eine riesige Messinghaube, die die New Yorker Skyline wie dereinst zum Glitzern und Schimmern bringt.

Retro Art déco in New York

»Wir möchten an die Zeit des Art déco anknüpfen und das Handwerk und die Schönheit der Architektur zelebrieren«, sagt Joe McMillan, CEO und Vorstand von DDG Partners. Im Portfolio des New Yorker Development-Unternehmens finden sich immer wieder Referenzen, die ein wenig an die 1920er-, 1930er- und 1940er-Jahre erinnern, damals, als die Weiterentwicklung von Stadt nicht nur immobilienwirtschaftlich getrieben war, sondern sich auch als gesellschaftliche Dienstleistung im Sinne von ästhetischem, baukulturellem Mehrwert verstand. »Mit dem 180 East 88th Street Tower treten wir den Beweis an, dass man hochwertige Materialien und traditionelle Bauweisen wie Mauerwerk, Rundbögen und Ausbildung eines unverwechselbaren Gebäudeabschlusses auch in die Jetztzeit weiterführen kann.« Die expressionistische Architektursprache setzt sich auch im Innenraum fort: In sämtlichen Wohnungen sind die Foyers als Ovale ausgebildet, am Boden Steinplatten in einer an Blätter und Blattadern erinnernden Verlegung und Verfugung, an Wand und Decken massiv gemauerte Parabelrund-bögen, als hätte der katalanische Baumeister Antoni Gaudí höchstpersönlich Hand angelegt. Von den insgesamt 48 Wohnungen, die die 154 Meter hohe Landmark befüllen, sind bloß noch sechs Stück verfügbar. Das Fest der Schönheit, so scheint es, wird von den Menschen gut angenommen.

Sichtbarkeit des Handwerks zelebrieren

»Und das wundert mich keineswegs«, sagt der Münchner Architekt Florian Nagler. »Schönheit ist ein berechtigter Anspruch, allerdings habe ich das Gefühl, dass mit der späten Moderne die Liebe zum Handwerk und zum Detail verloren gegangen ist. Die auf die Spitze getriebene Einfachheit und Nüchternheit ist nicht zielführend, die Menschen haben sich an den schlichten Kisten und an der Ästhetik von Abstraktion und Minimalismus sattgesehen. Ich glaube, wir sehnen uns wieder nach mehr Schönheit in unserer unmittelbaren Lebensumgebung.« In Bad Aibling, Oberbayern, errichte Nagler als Forschungsprojekt mit anschließendem Monitoring drei nahezu idente Wohnhäuser – mit dem einzigen Unterschied, dass sie sich im Baustoff und somit auch in der Bauweise unterscheiden. Ein Haus wurde klassisch im Mauerwerksverband geziegelt, eines wurde massiv aus unbewehrtem Dämmbeton gegossen, eines wurde als vorgefertigter Holzbau zusammengesetzt. Aufgrund der Bauweise kommt es – konstruktionsbedingt – auch zu kleineren Differenzen in der Mauerstärke sowie in der Ausformulierung der Fensteröffnungen. Das 2020 fertiggestellte Projekt hat Architekturgeschichte geschrieben. Im deutschsprachigen Raum scheint die Sehnsucht nach klassischer Schönheit eine Art Epizentrum gefunden zu haben. Architekten wie Stefan Forster (Frankfurt) und Hans Kollhoff (Berlin) sind seit langer Zeit erfolgreich darin, nicht nur billige Kubatur zu produzieren, sondern mit Zierrat, Gesimsen, Fensterfaschen, klassischen Attika-Abschlüssen und bewussten Farb- und Materialwechseln in der Fassade dem Auge wieder etwas zum Schauen zu geben.

180 East 88th Street, New York: Auf der Upper East Side mit unverbautem Blick auf den Central Park errichtete DDG Partners diesen 50-stöckigen Residential Tower, der an die Zeit des Art déco anknüpft – mit Backstein, Rundbögen und expressiver Messing-krone. Von den insgesamt 48 Wohnungen sind noch sechs verfügbar. Preise zwischen 1,3 und 15 Millionen US-Dollar. 180e88.com, ddgpartners.com

Forschungshäuser Bad Aibling: Mit den drei Wohnbauten aus Holz, Beton und Mauerwerk, die seit der Fertigstellung 2020 monitort und analysiert werden, wollte Architekt Florian Nagler ein Statement für Low-Tech-Nachhaltigkeit setzen. Die einfache, traditionelle Bauweise manifestiert sich nicht zuletzt in einer klassischen Architektursprache, die der Logik von Handwerk und Material folgt.

(c) Sebastian Schels

Wohnbau in Oberkassel, Düsseldorf: Alt oder neu? Tatsächlich handelt es sich bei diesem Projekt um einen Luxusneubau in Düsseldorf, Stadtteil Oberkassel, der 2018 fertiggestellt wurde. Die Wendeltreppe nimmt bewusst klassische, konservative Formen und Bauelemente auf. Der deutsche Immobilienent-wickler Ralf Schmitz ist genau auf solche historisierenden Immobilien spezialisiert. ralfschmitz.com

(c) Ralph Richter

Wohnbau, Hannover: Am Rande der Calenberger Neustadt in Hannover errichtete Stefan Forster diesen Wohnbau mit insgesamt 135 geförderten, genossenschaftlichen und frei finanzierten Miet- und Eigentumswohnungen. Die Architektursprache aus Backstein und weiß verputzten Zierflächen knüpft an die Ästhetik der 1920er- und 1930er-Jahre an – und erinnert daher nicht zufällig an die Gemeindebauten des Roten Wien. sfa.de

(c) Lisa Farkas

Sehnsucht nach klassischer Architektur

Einen Höhepunkt erreichte der Backlash-Trend zum Klassischen, Konservativen, als im Jänner 2022 die Berliner Architektin Petra Kahlfeldt – eine Meisterin im Errichten von Knusperhäuschen und historisierenden Villen – zur neuen Senatsbaudirektorin an der Spree ernannt wurde. Ein Aufschrei ging durch die gesamtdeutsche Architektur­landschaft. Was für die einen ein exotischer Schock ist, lässt in der Gesamtbetrachtung eine strukturelle Schwäche unseres Bauens erkennen: Nach Jahrzehnten von Kahlheit und Nüchternheit wünschen wir uns sehnlichst wieder eine Art »Comfort-Architecture« zurück. Gut, klassisch, altbewährt. Die Entwicklung sollte den Architekt:innen zu denken geben.

Geförderter Wohnbau, Garralda: In Garralda am Rande der spanischen Pyrenäen errichteten Rodrigo Nuñez und Nazareth Gutierrez Franco diesen schlichten Gebäudekomplex, dessen auffällige Dachform sich an der klassischen Bauweise der Region orientiert. Das Steildach war einst typisch für die baskischen Caserío-Farmhäuser. Auf diese Weise fügt sich die Architektur ganz selbstverständlich in die Landschaft. rodrigonunez.es

(c) Alberto Amores Montiel, Amores Pictures

Palazzo della Civiltà Italiana, Rom: Die Sehnsucht nach Klassik und Tradition ist nichts Neues. Zwischen 1938 und 1943 errichteten die Architekten Mario
Romano, Giovanni Guerrini und Erneste Lapadula unter der Herrschaft von Benito Mussolini diesen Palast in der futuris-tischen und faschistischen E.U.R. Esposizione Universale di Roma. Heute befindet sich hier der Verwaltungssitz des italienischen Modehauses Fendi.
fendi.com

(c) Shutterstock

Erschienen in:

Falstaff LIVING 02/2024

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