(c) Studio Gang

Biophile Architektur von Jeanne Gang

Die Chicagoer Architektin Jeanne Gang hat 1997 ihr eigenes Studio Gang gegründet – und verzaubert seitdem die Skylines sowie Kunst- und Kulturräume US-amerikanischer Städte mit geheimnisvollen Kreationen zwischen Design, Architektur und Naturwissenschaften.   

24.04.2024 - By Wojciech Czaja

Titelbild: Mutter Naturs Seelenverwandte: Jeanne Gang, geboren 1964 in Illinois, hat sich getraut, ein Tabu zu brechen. Ihre biomorphen Entwürfe an der Schnittstelle zwischen Natur und Architektur sind der Beweis, dass die weiche Linie mehr als großstadttauglich ist. Seit 2017 ist sie Mitglied der American Academy of Arts and Sciences. studiogang.com

Ein Raumfluss bis hinauf in den fünften Stock, mit anschmiegsamen Wänden und organisch geformten Fenstern und Brüstungsöffnungen, mit rauen, grob verputzten Spritzbetonwänden. Mit von oben vertikal einfallendem Licht, als stünde man in einer von Mutter Natur geformten Tuffsteinhöhle irgendwo im mexikanischen Yucatán oder auf der Sohle des 60 Millionen Jahre Antelope Canyon in Arizona, der für dieses Projekt Pate stand, mit seinen bauchig-weichen Sandsteinwänden, die den sonnigen Himmel umtanzen. Unruhig wartet man darauf, bis einem gleich eine hungrige Fledermaus um die Ohren flattert, doch nein, stattdessen bloß Unmengen von Menschen, Menschen, Menschen. Erwartet werden rund fünf Millionen Besucher:innen pro Jahr. Und das scheint auch realistisch zu sein. Bislang war das American Museum of Natural History (AMNH) schon weltberühmt, nicht zuletzt durch die Hollywood-Filmreihe »Nachts im Museum« mit einem nachtaktiven Ben Stiller in der Hauptrolle. Doch nun, mit dem Zubau des sogenannten Richard Gilder Center for Science mitsamt Terrarien, Insektarium und sogar eigenem Schmetterlingsvivarium, hat das AMNH ein Schaustück mehr – und zwar sich selbst. Zu verdanken ist dies der Chicagoer Architektin Jeanne Gang und ihrem 1997 gegründeten Architekturbüro Studio Gang.

Natürlich digital

»Wir wollten ein Gebäude schaffen, das nicht nur als Hülle für Naturkunde fungiert, sondern mit seiner Architektur selbst zum Exponat wird«, sagt Gang, die sich mit ihrem Entwurf an einflussreiche Meister des 20. Jahrhunderts anlehnt, an Antoni Gaudí, an Le Corbusier, an den Anthroposophen Rudolf Steiner. Vor der Entwicklung digitaler Planungstools wäre ein solches Gebäude nach heutigen technischen Anforderungen nur schwer umsetzbar gewesen, doch dank 3D-Programmen und neuester BIM-Technologie ist biomorphe Architektur, die sich an den Formen der Natur orientiert, nun endlich realisierbar. »Der Innenraum greift den Wunsch nach Erkundung und Entdeckung auf, der so typisch für die Wissenschaft ist und auch einen großen Teil des Menschseins ausmacht«, sagt Gang. »Auf diese Weise weckt das Museum eine gewisse Neugierde in uns, es lädt auf eine Reise in Vergangenes und Verborgenes ein und hilft dabei, kleinste und älteste Organismen zu verstehen.« Während das Richard Gilder Center innen mit grobem, zähflüssigem Beton ausgespritzt wurde, wurde es an der Außenseite mit Milford-Pink-Granit verkleidet, mit 4.500 Steinen, um genau zu sein, jeder einzelne davon in Form und Größe ein Unikat. Steinmetzmeister Johannes Georg Hofmann bezeichnet die Fassade als »die höchste Bergsteigerklasse in der Natursteinfertigung«.

 

 

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Biophiles Design zieht sich wie ein roter Faden durch Jeanne Gangs Projekte.

Natürliche Formensprache en vogue

Es ist nicht das erste Mal, dass Jeanne Gang der harten, abweisenden Großstadt einen weichen, fließenden, organischen Touch verpasst hat. Ihren internationalen Durchbruch hatte sie 2009 mit dem 86-stöckigen, 262 Meter hohen Aqua Tower in ihrer Heimatstadt Chicago. Während es sich bei der thermischen Hülle um einen eckigen, schmucklosen Quader mit glatter, günstig herzustellender Glasfassade handelt, ist der Baukörper rundherum mit weich hinausragenden Balkonplatten aus Beton geschmückt. Das an einen poetischen, im Moment eingefrorenen Wasserfall erinnernde Designmotto verpasste dem Haus schließlich seinen unverwechselbaren Namen – sowie viele internationale Preise, unter anderem den Emporis Skyscraper Award. Nicht nur Höhlen und Wasser dienen Jeanne Gang, die an der Graduate School of Design in Harvard unterrichtet und 2016 zur Architektin des Jahres gekürt wurde, als Inspiration, sondern auch viele andere natürliche Erscheinungen wie etwa Wind, Licht, Pilze, Blätter und Baumrinden. Beim neuen »Populus«-Hotel in Denver, Colorado, das sich derzeit in Bau befindet, analysierte sie die Rinde der Zitterpappel (Populus tremuloides), jenes Baumes also,
der in den Rocky Mountains am häufigsten anzutreffen ist. Die Fenster in den insgesamt 265 Hotelzimmern folgen der Morphologie von Fasern, Schuppen und Astlöchern und verleihen dem Haus an der Kreuzung von 14th Street und Colfax Avenue seine unverwechselbare Fassade. Aus den obersten Zimmern, wie könnte es anders sein, reicht der Blick bis zu den Rockies. Jeanne Gang ist, so gesehen, eine Vernetzerin zwischen Design, Architektur und Naturwissenschaften.

 

 

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Jeanne Gang ist überaus engagiert im Einsatz.

Erschienen in:

Falstaff LIVING 03/2024

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