ARCHITEKTUR-TRENDS 2024: BIS AN DIE GRENZEN GEHEN
Wie reagieren Architekt:innen auf schwierige Zeiten? Mit vielen Ideen: Nähe zur Natur, Sanierung statt Neubau, wucherndem Grün und einem neuen beruflichen Selbstverständnis der jungen Generation. Der LIVING-Blick auf die Trends einer neuen Architektur-Ära.
04.12.2023 - By Maik Novotny
Interesting times« – so nennt das viel zitierte chinesische Sprichwort die extremen Zeiten, in denen zu leben man sich eigentlich nicht wünschen sollte. Es dürfte kein Zweifel bestehen, dass die Gegenwart ganz besonders »interessant« ist, und das in jeder Hinsicht. Klimakatastrophe, Konflikte allerorten, und dann auch noch düstere Prognosen für die Bauwirtschaft. Wie reagiert die Architektur in solchen Zeiten – noch dazu, wo das Bauen an sich keine schnelle Disziplin ist? Ein Haus braucht schließlich mindestens zwei Jahre von der Idee bis zur Fertigstellung. Und doch lassen sich Strömungen in der Architektur diagnostizieren, die es zwar nicht erst seit gestern gibt, die aber gerade sehr schnell sehr relevant werden. Vier große Trends lassen sich hier bestimmen …
1. ARKTISCHE TRÄUME
Fahren wir zuerst nach Norden, ganz nach Norden, an die Ränder der Bewohnbarkeit, zu Arktis, Tundra und Fjord. Für diese Orte entwerfen skandinavische Architekt:innen Bauten, die wie ein Teil der Natur aussehen und mit geringem CO2-Fußabdruck auch tatsächlich klimaschonend und naturnah sind. In Longyearbyen, 1.300 Kilometer nördlich des Polarkreises, planen die Norweger:innen von Snøhetta das Besucher:innenzentrum der Svalbard Global Seed Vault, in dem die Samen der Erde aufbewahrt werden. Ein archaischer weißer Kegelturm wird hier aus Schnee und Eis ragen – eine Form, in der man eine Schneewehe oder einen aus der Erde gepressten Bohrkern sehen kann. »Es sind Bauten an sensiblen Orten, die die Architektur nur begrenzt verbessern kann«, sagt Architekt Kjetil Thorsen, Gründer von Snøhetta. »Was wir Architekt:innen tun können, ist, mit unseren Mitteln auf die Natur zu zeigen und Bewusstsein bei den Menschen zu schaffen. Wir spüren alle schon die Klimaveränderung, und es bleibt uns nichts übrig, als adaptiv zu denken. Die Architektur kann hier Ideen liefern, denn sie war immer schon ein vorausdenkender Beruf.« Auch Thorsens dänische Kollegin Dorte Mandrup ist in polaren Regionen unterwegs und passt sich dort den Formen der Natur an. Auf der norwegischen Insel Andøya, einem der beliebtesten Whale-Watching-Spots, baut sie ein Besucher:innenzentrum, das sich aus dem Boden erhebt wie ein Wal. Ein sanfter Hügel, bedeckt mit lokalen Natursteinen, auf dem man spazieren und von dem aus man die Meeressäuger erspähen kann. Ein ähnliches Stück künstlicher Hügellandschaft wird ihr Icefjord Centre im grönländischen Ilulissat, das den Weg in die überwältigende Küstenlandschaft zum Ziel macht. Natürliche Formen, die Respekt vor der Natur erzeugen.
2. BAUEN IM BESTAND
Eine Haltung, die nicht nur im hohen Norden relevant ist: Die in Harvard und Lausanne lehrende Professorin Charlotte Malterre-Barthes fordert ein Moratorium für den Neubau, deutsche Architekt:innen eine Abrisspause, in Österreich formierte sich Ende 2023 die Initiative »Allianz für Substanz«, die eine Politik des Bestandserhalts fordert. Auch die Schweizer Architekturinitiative »Countdown 2030« tut dies und sagt: »Im Bestand steckt viel graue Energie. Diese gilt es produktiv weiterzunutzen, denn durch Abriss geht ein großer Teil des ursprünglichen Energieeinsatzes verloren.« Christoph Müller vom Büro Zirkular in Basel, wo man sich in Forschung und Praxis der Kreislaufwirtschaft am Bau verschrieben hat, geht sogar so weit, dem Bestandsumbau grundsätzlich eine bessere Klimabilanz zu attestieren als Abriss und Neubau. Wie diese Umbaukultur aussehen könnte? Zum Beispiel so wie das »Stadthaus« in Linz. Sandra Gnigler und Gunar Wilhelm vom Architekturbüro mia2 waren eigentlich auf der Suche nach einem Haus mit Garten gewesen und stießen auf das Objekt in der Linzer Altstadt, dessen älteste Teile aus dem 16. Jahrhundert stammen. Das nicht denkmalgeschützte Haus war in wenig attraktivem Zustand und galt als sicheres Abbruchobjekt. Nicht so für mia2. Nach der kompletten Bauaufnahme arbeiteten sie sich langsam und konsequent durch das Haus. Das Dach wurde abgetragen und das Haus mit einem feinfühligen Holzbau und großen gläsernen Ausgucken aufgestockt. Und sogar ans Recycling wurde gedacht: Ein Balkongeländer aus einem 1950er-Jahre-Bau in Wels wurde nach Linz transferiert und glänzt hier nun an den Balkonen im begrünten Hof in schwarz lackierter Eleganz.
3. WIEN WIRD GRÜN
An anderer Stelle begegnet man dem klimagerechten Bauen mit einer Mischung aus technischer Intelligenz und viel Chlorophyll. So wie beim Umbau eines kleinen Biedermeierhauses in Wien-Neubau. Dieses bekam von RATAPLAN Architektur ein ganz besonderes neues Dach verpasst. Waagrechte Lamellen gegen die sommerliche Überhitzung und darüber Pflanztröge, in denen es schon grün wuchert – das Mikroklima freut sich ebenso wie die Mitarbeiter:innen des Büros dahinter. »Diese Maßnahmen leisten als ›grüne Inseln‹ neben dem Mehrwert einer hohen Aufenthaltsqualität einen nicht unerheblichen Beitrag zur Kühlung eines dicht bebauten Umfeldes,« sagen die Architekt:innen. Noch mehr Grün gefällig? Das wird demnächst geliefert, denn die Ende 2023 beschlossene Novelle der Wiener Bauordnung wird die Fassadenbegrünung ins gesetzliche Programm nehmen. Einer der beliebtesten Treffpunkte der Stadt, das MuseumsQuartier, wird zwar nicht an den Fassaden, aber in seinen Höfen begrünt werden, die im Hochsommer oft unerträglich heiß sind. Ulme, Zelkove, Platane und Silberlinde werden schon bald neben mumok und Museum Ludwig einziehen. Der Wald wird zur Stadt – und umgekehrt. »Bäume leisten enorm viel für die Aufenthaltsqualität in der Stadt«, sagt die MQ-Begrünerin Anna Detzlhofer von D\D Landschaftsplanung. »Sie senken die Temperaturen, reduzieren Windgeschwindigkeiten, verbessern die Luftqualität – und wirken sich nicht zuletzt ungemein positiv auf unsere Psyche aus.«
4. IM KOLLEKTIV
Und der letzte Trend? Der betrifft die Architekt:innenschaft selbst. Denn die junge Generation von Absolvent:innen hält nicht viel vom Kult der genialen Einzelstars. Sie arbeiten in Teams ohne Hierarchien, so wie das 17-köpfige Kollektiv AKT, das 2023 gemeinsam mit Hermann Czech den österreichischen Pavillon auf der Architekturbiennale Venedig konzipierte. In einer feinen kleinen Ausstellung im Architekturzentrum Wien mit dem lustigen Titel »Zwischen Kostenschätzung, Muttermilch und Bauwende« präsentiert diese Generation so etwas wie ein Manifest. Sie befragt kritisch ihren eigenen Beruf und zitiert einen älteren Chef mit den Worten: »Ihr Jungen habt keine Arbeitsmoral mehr. Euch fehlt der Ehrgeiz. Ihr arbeitet nur noch für die Work-Life-Balance.« Stimmt das wirklich? Wie erschafft man Architektur? Von neun bis fünf an den Werktagen oder 24 Stunden lang jeden Tag? Die Ergebnisse werden wir bald sehen, denn für die junge Generation gibt es viel zu tun.