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Das Chalet - eine touristische Erfindung?

Das traditionelle Chalet ist ein Strickbau aus dunklem Holz mit einem flach geneigten, weit ausladenden Dach und Laubsägeornamenten. So die Vorstellung in unseren Köpfen. Heute bedient das Chalet – von der Alphütte bis zum Luxuschalet – die urbane Sehnsucht nach erholsamen Ferien in den Bergen.

22.02.2024 - By Christina Horisberger

Header-Bild: Frische Luft Ende des 19. Jahrhunderts werden zahlreiche Kurhotels und Gasthäuser in den Bergen mit Laubsägemotiven im «Schweizerstil» verziert. 

Das heimelige Holzchalet ist für viele heute Inbegriff für Ferien in den Schweizer Alpen. Für romantische Gemüter liegt das Chalet inmitten saftiger Wiesen und Kuhgeläut. Das ausladende Dach ächzt im Winter unter seiner Schneelast und im Innern lodert das Cheminéefeuer und lässt das Arvenholz seinen typischen Duft verströmen. Nach aussen sind geraniengeschmückte Balkone und Laubsägeornamente ein Muss, damit das Klischee perfekt ist und auf Instagram in Echtzeit gepostet werden kann.

Ein erotisches Versprechen

Doch warum ist gerade das Chalet – nebst Käse, Kuh, Uhr und Schokolade – zum Sinnbild des helvetischen Wander- und Skiwunderlands geworden? Die Ursprünge dafür sind unter anderem in einem Briefroman aus dem 18. Jahrhundert zu finden, der vom französischen und europäischen Adel damals vermutlich genauso unter der Bettdecke gelesen wurde wie heutzutage Harry Potter. In «Julie ou La Nouvelle Héloïse» (1761) lässt der berühmte Natur­philosoph Jean-Jacques Rousseau eine unstandesgemässe Liebe zwischen einem Hauslehrer und der Tochter aus besserem Hause erblühen. Um sich heimlich ihrer Zuneigung hingeben zu können, schlägt die junge Julie ihrem Liebhaber ein Maiensäss mit «châlets» im Wallis vor und ergänzt in ihrem Brief: «Die munteren, verschwiegenen Milchdirnen wissen Anderen das Geheimniss [sic] zu hüten, weil sie dessen für sich selbst benöthigen.» Dieses erotische Versprechen lockte in der Folge den europäischen Adel in die unberührte Bergwelt der Schweizer Alpen, wobei die ersten Erfahrungen vor Ort eher ernüchternd ausgefallen sein müssen. Die Kuhfladen vor den Châlets hatte die Haute Volée mit ihren Samtschühchen und Reifröcken nicht bedacht.

Atemberaubend Die frühesten touristischen Chalets waren Alphütten mit Verpflegungsmöglichkeiten.

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Das Chalet wandert ins Tal

Gleichzeitig entdeckten auch die englischen Grand-Tour-Reisenden die Schweizer Berge. Ab 1863 organisierte Thomas Cook regelmässig Schweizreisen. Für Engländer:innen mit gipfelstürmerischen Ambitionen waren die Alphütten schon vorher Orte der Einkehr und Notunterkunft am Fuss der Vertikalen gewesen. Und erst die Aussicht von hier oben: gorgeous! Da ab der Mitte des 19. Jahrhunderts immer mehr Touristinnen und Touristen aus ganz Europa und Amerika die Schweiz bereisten, wanderte das Chalet immer weiter das Tal hinunter. Die Gunst der Stunde witternd, bauten geschäftstüchtige Unternehmer und Hoteliers nicht nur urbane Grandhotels für die betuchte Kundschaft, sondern vermehrt auch Gasthäuser und Hotels mit holzverzierten Balustraden, Balkönchen und Tragbalken. Das fand wiederum die europäische Bourgeoisie derart charmant, dass der sogenannte Schweizer Stil oder «style châlet» auch in der Normandie, für deutsche Jagdhäuser und französische Gartenlauben und Wirtschaftsgebäude mitsamt Kuhherde herhalten musste – ganz im Sinne von Rousseau’s «retour à la nature». Und nicht zu vergessen ist auch die politische Bedeutung des Chalets: Als pittoreskes Versatzstück in Gartenanlagen diente das Chalet als Symbol für eine demokratische Gesinnung seiner Besitzer.

Luxuriöses Mischwesen Die Villa Chesa sur l’En in St. Moritz-Bad für den Unternehmer Ambrosius von Planta wurde 1882/83 in einer Mischform als Chalet und Engadinerhaus errichtet.

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Das Chalet als Bausatz und Souvenir

In Interlaken, Thun, aber auch in Chur entstanden ab Mitte des 19. Jahrhunderts aufgrund der grossen Nachfrage zahlreiche Chaletfabriken. Diese konnten vorfabrizierte und wunschgemässe Holzchalets mit der Eisenbahn in alle Welt dampfen und schippern, da der traditionelle Strickbau aus ineinander verzahnten Holzbalken besteht. Somit war das Schweizer Holzhaus auch eins der ersten Fertigbauhäuser. Wer sich kein 1:1 Modell leisten konnte, erwarb das Chalet als Souvenir im Kleinformat. Bis 1914 fertigte die Brienzer Holzschnitzerei Jobin solche Miniatur-Chalets in allen Grössen und Formaten. Heute sind diese Souvenirs hingegen vornehmlich Plastikware made in China.

Alle wollen eins Mit dem wachsenden Wohlstand wurde ab den 1970er-Jahren das Ferienchalet in den Bergen zu einem Must-Have (Chalet-Siedlung in Jeizinen/VS).

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Bauen im Bestand

Ab den 1970er-Jahren gehörte es in der Skifahrnation Schweiz zum guten Ton, als Ferienhaus ein Chalet in den Bergen zu besitzen. Wegen lascher Baugesetze entstanden vielerorts in neuen Bauzonen ganze Chalet-Siedlungen. Um das pittoreske Ortsbild zu bewahren, pervertierten einzelne Gemeinden Baugesetze dahingehend, dass nur zwei Obergeschosse erlaubt sind, aber unbeschränkt in den Berg hineingebaut werden darf: für das Heimkino, das Spa und die Tiefgarage mit den Luxus­limousinen. Die Architekturdebatte, das Zweitwohnungsgesetz und die Siedlungsentwicklung haben wiederum eine nachhaltigere Entwicklung des alpinen Bauens in Gang gesetzt. Mit der fortschreitenden Landflucht stellt(e) sich die Frage nach der Wiederbelebung von Siedlungen im alpinen Raum. Dabei werden heute historische Gebäude sorgfältig und mit denkmalpflegerischem Sachverstand instandgesetzt und im Einklang mit den Bedürfnissen der lokalen Bevölkerung umgenutzt. Aber das klischeehafte Bild des Schweizer Chalets wird sich auch künftig in den Köpfen halten; natürlich auch genährt durch das Marketing der Tourismusbranche.

Mythos Chalet Sehnsucht, Kitsch und Baukultur

Ausstellung mit gleichnamiger Publikation (ISBN 978-3-033-09923-4) Das Gelbe Haus Flims hat mit der künstlerischen Leitung Gasser Derungs und den Co-Kuratoren Beat Gugger und Christina Horisberger dem Chalet eine Ausstellung gewidmet. «Mythos Chalet. Sehnsucht, Kitsch und Baukultur» ist aktuell auf Wanderschaft und ab 14. Dezember 2023 bis 17. März 2024 in La Tuor in Samedan zu sehen (latuor.ch). Ab Mai 2024 ist sie im Bildhauermuseum Brienz und ab Herbst im Gletschergarten Luzern zu sehen.

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DIESER BEITRAG ERSCHIEN IM LIVING SCHWEIZ HEFT 23/02.

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