Bioökonomie: Designmaterialien aus erneuerbarem Kohlenstoff
Die Zeit der fossilen Verschwendung muss zu Ende gehen. Doch die Alternative heißt nicht freudloser Verzicht. Im Gegenteil: Mit biologisch abbaubaren Materialien lassen sich Handtaschen und Kleidung fertigen und sogar Häuser und Autos bauen. Auf in die Designwelt des erneuerbaren Kohlenstoffs!
30.04.2024 - By Maik Novotny
Strumpfhosen aus Chicorée, Socken aus CO2, Kreditkarten aus Holz, Möbel aus Popcorn, Sneakers aus Hundehaaren. Klingt ausgedacht? Ist es aber nicht. Denn dies sind nur fünf von 101 Beispielen für Produkte aus erneuerbarem Kohlenstoff, die Markus Petruch und Dominik Walcher in ihrem Buch »Der Stoff, aus dem die Zukunft ist« versammelt haben. Die beiden Forscher an der FH Salzburg – Markus Petruch ist Diplomingenieur für Holztechnologie, Dominik Walcher Professor für Marketing und Innovationsmanagement – beschäftigen sich schon länger mit Bioökonomie und mit Möglichkeiten für die Materialwende im Industriedesign und in der Architektur. Einige der Beispiele stammen von Studierenden am FH-Campus, so zum Beispiel die äußerst elegant aussehende Handtasche aus Orangenschalen, entworfen von der brasilianischen Studentin Maíra Petrick.
KLIMAPOTENZIAL
Bioökonomie – das klingt nach etwas Neuem, ist es aber nicht. Regionale Ressourcen und erneuerbare Energien wurden schon früher ganz selbstverständlich genutzt: Bauen mit Holz, Dämmen mit Stroh, Kleidung aus Schafwolle. Bier aus Hefe. Dann kamen die fossilen Energien und übernahmen die Macht. Nicht nur in der Industrie und im Alltag, auch im Produktdesign brach die Ära der nicht erneuerbaren Kohlenstoffe an. Die katastrophalen Folgen dieser Zeit sind längst sichtbar. Die Bioökonomie soll zur Materialwende aufrufen: in die Zukunft, mit dem Wissen der Vergangenheit. Algen, Pflanzen, Holz, Tiere, Pilze, Bakterien und Reststoffe: Das gehört für uns ins Reich der Biologie, und viele würden sich wohl nicht daran stören, wenn es auch dort bliebe. Doch trotz mancher imaginierter Ekelschwelle bergen organische Materialien ein immenses Potenzial für ein Umdenken und Umlenken in Richtung klimagerechter Kreislaufwirtschaft. Denn Forscher:innen wie die deutsche Cradle-to-Cradle-Koryphäe Michael Braungart weisen seit Jahren unermüdlich darauf hin, beim Schlagwort Recycling genau hinzuschauen. Denn oft enden wertvolle Reste als Straßenbelag, wofür man sich dann auch noch Lob erwartet. Dabei handelt es sich hier um Downcycling, während die Möglichkeiten echter Wiederverwertung ungenutzt bleiben. Also: Re-Use statt Recycling! Nicht nur das: Anstatt nur den Schaden durch die Verschwendung von Material und Energie zu begrenzen, könnten Produkte die Umweltbilanz sogar ins Positive verschieben, etwa wenn sie als Nährstoff in die Natur zurückgeführt werden. So betrachtet, sieht man das Möbel aus Pilzmycel schon mit ganz anderen Augen. Für Einsteiger:innen in die Welt der Bioökonomie bietet sich eine Produktlinie an, gegen die niemand etwas haben kann: Wandpaneele aus Heublumenwiesen, wie von der 2012 gegründeten Firma Organoid aus Fließ in Tirol. Sie entwickelt Oberflächen, die mit biologischen Bindemitteln mit Almheu, Moos, Gewürzen, Baumrinde oder getrockneten Früchten beschichtet werden. Neben Haptik und Optik steht hier auch der Geruch im Vordergrund – hier wird der Duft der Natur ganz unaufdringlich im Innenraum verbreitet, bei Rosenknospen und Vanilleschoten sogar über mehrere Jahrzehnte.
BIOREGIONALES DESIGN
In noch größerem Maßstab entwickelt man natürliche Materialien im Atelier Luma im französischen Arles. Das neue Areal, das durch den spektakulären Turm von Frank Gehry berühmt wurde, beherbergt ein Forschungs- und Entwicklungslabor für bioregionales Design. Der Name erklärt sich von selbst: Ein Team aus über 30 Forscher:innen untersucht hier, was sich aus Flora der Camargue verwerten lässt, ohne globale Transportketten mit hohem CO2-Ausstoß bemühen zu müssen. Die ersten Ergebnisse: Farben aus Algen, Leder aus Sonnenblumen, Verpackung für Champagnerflaschen aus Traubenresten. Wenn Vincent van Gogh das noch erlebt hätte! Doch nicht nur Produkte, sondern auch Häuser können von den bioökonomischen Ideen profitieren. Das ist auch dringend nötig, denn immer noch ist die Bauindustrie für rund 40 Prozent der globalen CO2-Emissionen verantwortlich. In Arles wurde die Werkstatt von Atelier Luma von BC Architects aus Brüssel und dem britischen Kollektiv Assemble ebenfalls aus Materialien der Umgebung errichtet: alte Dachziegel, Lehmwände aus Bauschutt. Das sieht auch noch gut und keineswegs ärmlich aus. Denn die Materialwende, sagen Markus Petruch und Dominik Walcher, bringt auch eine neue Art von Ästhetik mit sich: wärmer, griffiger, freundlicher. Da stört auch die eine oder andere Unebenheit nicht, denn solche gehören ganz natürlich dazu.
HAUS AUS MÜLL
Weiteres Beispiel dafür: die in Österreich hergestellten Ziegelsteine aus Hanf, die mit dem auf der Hand liegenden Slogan »Designed to build, not to smoke« beworben werden. Dafür wird Hanf mit Naturkalk verpresst und dadurch steinhart. Als Baustoff bestens geeignet, denn der Ziegel ist nicht brennbar, komplett recycelbar und schimmelt nicht. Noch dazu hat er eine gute Isolierfähigkeit und könnte dadurch sogar fossile Dämmstoffe überflüssig machen. Und: Der Herstellungsprozess des Hanfziegels bindet mehr CO2, als er abgibt. Wem die nach Porridge aussehenden bio-ökonomischen Ziegel zu grau sind, dem sei ein Ausflug nach Brighton empfohlen. Auf dem Campus der dortigen Universität steht das Waste House, das zu fast 90 Prozent aus Müll besteht. Holz und Farbe von anderen Baustellen, eine Fassade aus umgedrehten Teppichfliesen und als Isoliermaterial versammelter Haushaltsabfall. Das ist zwar streng genommen nicht biologisch, aber ein weiterer Wegweiser in eine klimaneutrale Zukunft ist es jedenfalls.