(c) Shutterstock

Kitsungi oder das japanische Prinzip der Heilung

Es sind diese Momente im Leben, die einen auf die Probe stellen: Man wächst über sich selbst hinaus, lernt, adaptiert und geht gestärkt weiter. Die japanische Kunst Kintsugi kann dabei helfen, diesen wichtigen Perspektivenwechsel zu vollziehen.

02.05.2024 - By Melanie Gleinser-Moritzer

Kintsugi, das ist Kunst und Philosophie gleichermaßen. Ein ästhetisches Prinzip, das man durchaus auf das eigene Leben umdeuten kann. Kintsugi sieht nicht nur schön aus, sondern hat auch eine schöne Bedeutung. Die aus Japan stammende Kunstform bedeutet übersetzt nichts anderes als »Goldflicken« und beschreibt eine einmalige Reparaturmethode: Anstatt gebrochenes Porzellan zu entsorgen, wird es mit Gold ­geflickt; die Bruchstellen werden betont anstatt versteckt. Das Ergebnis ist eine Ästhetik, die das Vergängliche hervorhebt, das Fehlerhafte wertschätzt und den Makel zu Höherem stilisiert.

Wachsende Schönheit

Schönheit, lernen wir durch Kintsugi, liegt nicht zwingend in der Perfektion, sondern im Wachstum. Dem Annehmen von Fehlern und dem Weitergehen. Simples Porzellan, zerbrochen und ausrangiert, bekommt einen völlig neuen Wert dank dieser Methode. Es wird veredelt. Die Veredelung ist ein Upgrade, kein Downgrade. Und: Es impliziert einen Perspektivenwechsel. Diesen vollzog ich auch, als ich zufällig auf Kintsugi stieß. Damals vor zwei Jahren, in sich endlos ziehenden Wochen in einem einsamen Krankenhausbett. Wie ein Himmelsgeschenk ­offenbarte sich die Weisheit von Kintsugi in ­einem Moment, als ich mich von einer Operation am offenen Herzen erholte, in der ich mit allerhand Versatzstücken ausgestattet worden war. Das bisherige Leben schien zerbrochen wie das Herz, und die Kraft, wieder aufzustehen, flammte nur spärlich auf.

Zuversicht als Haltung

Kintsugi gab mir zu denken und schenkte auf diffus verquere Art Hoffnung. Und so fragte ich mich auch: Vielleicht ist mein Herz nun etwas Kintsugi? ­Gebrochen, verkrüppelt, mit Implantaten ausgestattet, aber auch geflickt, geheilt und stärker als zuvor? Die Antwortfindung war ein langwieriger Prozess, mündete aber irgendwann in ein klares Ja! Heute, sobald mir etwas runterfällt und bricht, hebe ich es ­vorsichtig auf, stelle es in den dafür vorgesehenen Kasten und warte, bis ich es heilen kann. Mittlerweile hat sich schon eine obskure Sammlung an Porzellan um mich gereiht, das mit Goldadern überzogen ist. Aber das passt doch. Es ist eine schöne ­Metapher fürs Leben. Denn sind wir nicht alle etwas ­Kintsugi?

Erschienen in:

Falstaff Happy Life 01/2024

Für den Happy life Newsletter anmelden

Mit Stern gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Anrede

Sich rundum wohlfühlen, mitten im Leben stehen, Körper, Geist und Seele in Einklang bringen - wer wünscht sich das nicht! Das neue Magazin Falstaff Happy Life beschäftigt sich mit diesen Aspekten und richtet sich an alle Menschen, die sich einfach besser fühlen möchten.

JETZT NEU Happy Life 24/01