Kurzer Ausflug in die Kindheit: Das »Stockbrot« kommt optisch direkt vom Feuer.

Kurzer Ausflug in die Kindheit: Das »Stockbrot« kommt optisch direkt vom Feuer.
© Dimi Katsavaris

Avantgarde der Kulinarik: Der sechste Geschmack im »Ox & Klee«

Mit einem normalen Dinner hat ein Abend im Kölner Restaurant »Ox & Klee« wenig zu tun. Statt eines herkömmlichen Menüs bereitet Daniel Gottschlich ein kulinarisches Spiel für seine Gäste vor – und lässt damit einen Geschmackssinn erleben, von dem nicht einmal bekannt war, dass es ihn überhaupt gibt.

Würde man Daniel Gottschlich mitten in der Nacht wecken, diese sechs Wörter kämen wie aus der Pistole geschossen aus seinem Mund: sauer, süß, umami, bitter, salzig und fett. Mit ihnen beginnt ein Abend im »Ox & Klee« – und mit einer Geschmacksschulung. Waren es denn nicht nur fünf Geschmacksrichtungen, die der Mensch unterscheiden kann? Offiziell ja. »Die sechste ist noch in der Qualitätsprüfung. Wissenschaftler sind sich aber einig, dass es Rezeptoren auf der Zunge gibt, die auf Fett reagieren«, so Gottschlich. Der Zwei-Sterne-Koch muss es wissen, schließlich kann man den sechsten Sinn bei ihm hautnah erleben.

Über Umwege ans Ziel

Wo normalerweise Gäste Platz nehmen, erklärt nun Gottschlich am Chef’s Table, wie er in den letzten 13 Jahren ein Kochkonzept entwickelte, das Gäste aus ganz Europa in die Metropole am Rhein zieht.

Dabei stand es einen Moment lang schlecht um die Karriere des 40-Jährigen. Aber wie so oft im Leben führen Umwege ans Ziel: Für den gelernten Energieanlagenelektroniker führte dieser Weg, vorbei an Maschinen, Kabeln und Drähten, doch noch in die Küche des »Steigenberger Grandhotel Petersburg« in Königswinter. Trotz der Bedenken seiner Eltern, die sich für ihren Sohn den vermeintlich sicheren Weg wünschten, erfüllte Gottschlich sich dort 2003 seinen Kindheitstraum: die Ausbildung zum Koch.

Fragt man ihn, wie man vom Elektroniker zum Koch wird, stellt er die Frage prompt um: Wie wird man vom Koch zum Elektroniker? Koch wollte er nämlich schon immer werden, besonders nach jedem Kalbsgehackten mit Kartoffeln, Nudeln und Apfelkompott von seiner Oma. Ein Gericht, das in kleiner Abwandlung einen festen Platz im Menü des »Ox & Klee« hat.

Koch, Musiker und Designliebhaber: Der Tausendsassa Daniel Gottschlich hat auch abseits der Küche dem Restaurant seine Handschrift verliehen.
© Dimi Katsavaris
Koch, Musiker und Designliebhaber: Der Tausendsassa Daniel Gottschlich hat auch abseits der Küche dem Restaurant seine Handschrift verliehen.

»Experience Taste«

Für ihn ist sein damaliges Lieblingsessen eines von zwei Schlüsselmomenten: Das Süßsaure des Apfels, das Herzhaft-umamige vom Fleisch, aber auch das Fett der in Butter geschwenkten Nudeln inspirierten ihn, sich auf die einzelnen Geschmäcker zu fokussieren. Das Ergebnis ist das Konzept »Experience Taste«. Die Experience, als zweiter Schlüsselmoment, war in seiner Kindheit eher selten – und deshalb umso spezieller. »Wir sind so gut wie nie in Restaurants gegangen, aber wenn, war es ein Erlebnis, das mich unglaublich fasziniert und begeistert hat«, schwärmt er.

Genau diese Momente und die damit verbundenen Gefühle will er mit seinen Gästen teilen. Seine Vision: ein Restaurant kreieren, das freisinnig im Konzept und herausragend in der Qualität ist – und nichts mit einem klassischen Lokal zu tun hat. Diese Grundidee entwickelte er schon während der Ausbildung, seine Philosophie aber erst im Laufe der Jahre. Dazu gehört auch seine »bewusst ausgesuchte Zwischenstation« im Kölner »Brauhaus Früh«. Sie prägt bis heute den Kochstil des zweifachen Sternekochs: außergewöhnliche Gerichte mit wiedererkennbarer Stilistik, ohne den Bezug zu seinen Wurzeln zu verlieren.

Abendfüllendes Ratespiel

2010 eröffnete er schließlich sein erstes eigenes Restaurant: das »Ox & Klee«. Zuerst in einem Souterrain im Belgischen Viertel beheimatet, zog das Lokal 2016 an den Rheinauhafen ins mittlere Kranhaus um; ein Jahr zuvor gab es den ersten Michelin­Stern, der zweite folgte 2019. Der Umzug in die attraktivste Wohnimmobilie Kölns – für Gottschlich eine logische Konsequenz. Andere warfen ihm Größenwahn vor, doch er ließ sich nicht beirren. Es ging ihm nie um Schickimicki, sondern immer um das allergrößte Geschmackserlebnis für seine Gäste. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Denn mit einem normalen Restaurantbesuch hat ein Abend bei Gottschlich wenig zu tun. Statt einer Speisekarte erwartet die Gäste hier ein Acht- oder Zwölf-Gang-Überraschungsmenü, wahlweise mit Fisch und Fleisch oder vegetarisch, und Getränkebegleitung – sowohl eine alkoholische als auch nicht-alkoholische stehen zur Wahl.

Bevor es aber überhaupt richtig losgeht, bekommt der Gast die angekündigte Geschmacksschulung in Form des eigens für das »Ox & Klee« entworfenen »Geschmacksqualitäten-Fächers«. Er beschreibt nicht nur die sechs Qualitäten, sondern macht auch mit den kleinen Icons vertraut, die einen den Abend über begleiten werden. Eine Zitrone für die Säure, ein Maiskolben für die Süße, für den Umami-Geschmack hat Gottschlich den Pilz ausgesucht, für die Bitterkeit Kaffeebohnen, die Salzflocken erklären sich von allein und zum Schluss kommt die Avocado, die das Fett abbildet.

Es folgen sechs kleine Appetizer, dass jeder für jeweils eine der Geschmacksqualitäten steht, ist selbsterklärend. Welche aber nun genau welche Rezeptoren auf der Zunge anregt – da beginnt das Ratespiel. Aufgelöst wird es auf der Rückseite der die Gerichte begleitenden Karten.

Das Spiel ist abendfüllend. Zu jedem Gericht gibt es ein neues Kärtchen, das die jeweiligen Qualitäten ausgestanzt hat. Zusätzlich wird jede Zutat noch einmal einzeln erklärt. Legt man die Karte auf den dazugehörigen Betonquader, findet man beispielsweise heraus, dass der Tempeh zum Pilz, die Rose zum Mais oder die Johannisbeere zu der Zitrone gehört. Sie sind Zutaten des dritten von zwölf Gängen: der »Stulle«. Sie wird in der »Ox & Klee« Brotdose serviert.

Das Besondere und gleichzeitig Schwierige: In jedem Gericht müssen nicht nur alle sechs Geschmacksqualitäten untergebracht sein, sie müssen auch perfekt harmonieren. Eine Herausforderung, deren Lösung gerne Wochen oder sogar Monate in Anspruch nimmt. »Die Devise ist: Es darf nicht schlechter sein, im Idealfall sollte es besser sein«, betont Gottschlich.

Deshalb wäre es auch unmöglich, das ganze Menü auf einmal auszutauschen. Stattdessen werden je nach Saison und den verfügbaren Zutaten peu à peu einzelne Gänge ausgetauscht. Saisonalität stellt sich so ganz von allein ein und wo möglich wird auf regionale Produzenten zurückgegriffen.

Ein Abend bei Daniel Gottschlich fordert und inspiriert gleichermaßen. Alle Sinne werden gesättigt. Verlässt man schließlich gegen Mitternacht das Lokal, schreitet man durch einen leuchtenden Torbogen hinaus zum Hafen – die verschiedenen Geschmäcker spürt man noch lange auf der Zunge.


Nichts mehr verpassen!

Melden Sie sich jetzt für unseren Newsletter an.

Anna Wender
Anna Wender
Redakteurin
Mehr zum Thema
Kulinarik
Fine-Dining im Europa-Park
Wussten Sie, dass es in Europas größten Freizeitpark zwei erstklassige Gourmet-Restaurants gibt...
Von Sebastian Späth
Restaurant der Woche Deutschland
Restaurant der Woche: »Sawito«
Im idyllischen Havelland präsentiert der gebürtige Pfälzer Marco Wahl eine zeitgenössische...
Von Michael André Ankermüller