So schmeckt die Wüste

Ein junger Gourmet erntet Ameiseneier und Co. in der Wüste und beliefert damit Sternelokale. Falstaff war mit ihm auf Tour.

Bevor die Regenzeit beginnt, sieht die Landschaft um das Dorf Ejido Puerto im Herzen Mexikos noch geschundener aus als sonst. Die Erde ist braun und aufgesprungen, die wenigen Bäume ducken sich dornig unter der Hitze, am Horizont flimmert die Luft. Vom Leben ist nicht viel zu sehen. Das einzige, was hier gedeiht, sind Kakteen. Vor einigen Jahren stand hier eine große Fabrik für Pulque, den vergorenen Agavensaft, den Mexikos arme Arbeiter gerne tranken. Heute sind von dem Bau nur noch die Grundmauern übrig – außer Kojoten verirrt sich kaum jemand mehr hierher. 

Carlos Redon will das ändern. Geht es nach ihm, soll die verlassene Gegend bald eine Pilgerstätte für Feinschmecker werden. Redon ist knapp über 30 und schon viel herumgekommen: Er hat auf der Slow-Food- Universität in Italien studiert und seinen Master in »Gastronomic Science« gemacht. Nachdem er als Koch in Italien und Griechenland, Mexiko und Australien gearbeitet hatte, organisierte er Gourmet-Festivals in Europa. Vor zwei Jahren beschloss er dann, zurück in seine Heimat zu gehen – nach Ejido Puerto, in eben jenes Dorf, in dem schon seine Großmutter gelebt hat. Er möchte hier Arbeitsplätze für das verarmte Dorf schaffen und zahlreiche Touristen aus Mexiko-Stadt anlocken, die nur eineinhalb Autostunden entfernt liegt. Sein Ziel: ein Wüsten-FoodCamp für Gourmets aufzubauen, in dem ausschließlich serviert wird, was hier gewachsen ist. Und wenn man ihn fragt, was man denn in dieser Ödnis an Fauna und Flora überhaupt essen kann, sagt er: »Eigentlich fast alles.« Wer einige Stunden mit dem kleinen Mann verbringt, merkt: Er hat völlig recht.

Junges Kakteenblatt: Aufgeschnitten lässt es sich in der Küche auf elegante Weise einsetzen / © Tobias Müller
Junges Kakteenblatt: Aufgeschnitten lässt es sich in der Küche auf elegante Weise einsetzen / © Tobias Müller

Nach nur einem Vormittag des Jagens und Sammelns serviert er unter anderem Esca­moles, die reiskorngroßen Eier der hiesigen Ameisen, mit ein wenig Chili kurz in der Pfanne gebraten. Die kleinen Körner platzen im Mund wie Kaviar und schmecken nussig, milchig und wie zart gereifter Käse. Außerdem sammelt er Gusano de Maguey, fingerdicke, bis zu fünf Zentimeter lange Larven, die in den Blättern der Agaven leben. Über dem Feuer geröstet, werden sie außen knusprig und innen cremig, ihr Aroma erinnert an Oktopus, nur interessanter, kräftiger, komplexer. Und Xahue, daumennagelgroße schwarz-weiß-rote Käfer, nur essbar wenn sie bereits erwachsen sind und Flügel ausgebildet haben. Gebraten werden sie knusprig und vom Aroma her irgendwo zwischen Rindfleisch und Sojasauce anzusiedeln.

Daneben gibt es auch weniger Experimentelles: Wildkaninchen und junge Kaktustriebe, in Agavenblättern geschmort; Eidechse mit Chili und Zwiebel, in der geschmacks­intensiven Membran der Agavenblätter gedämpft; gebratene Palmblüten in der Mais­tortilla; die violetten, fruchtigen Beeren des Nopales-Kaktus; und, als Nachspeise, wilder Kaktushonig mitsamt seiner Wabe. Die kleinen Wüstenbienen bauen essbare Nester, die nicht wachsig sind, sondern deren Konsis­­tenz am Gaumen irgendwo zwischen weich und knusprig liegt. Der Honig glitzert violett darin und schmeckt nicht ganz so süß, dafür herrlich fruchtig und blumig. Hinuntergespült wird das Ganze mit frischem, wenige Stunden fermentiertem Agavensaft.

Knuspriges Fischfilet mit Kakteenblatt und Sauce aus der Agave: ein Gericht von Enrique Olvera, Spitzenkoch im Restaurant »Pujol« / Fotos beigestellt
Knuspriges Fischfilet mit Kakteenblatt und Sauce aus der Agave: ein Gericht von Enrique Olvera, Spitzenkoch im Restaurant »Pujol« / Fotos beigestellt

Luxusrestaurants als Kunden
Redon verkauft seine Insekten auch in Mexiko-Stadt, die edlen Restaurants dort reißen sich um seine Ware: Er beliefert etwa das »Pujol«, den Gourmettempel von Chefkoch Enrique Olvera. Dieser brät die Ameiseneier in Knochenmark und serviert sie auf flaumigen Maistortillas als Vorspeise. Eine Zeit lang versorgte Redon auch ein Nobelrestaurant in Madrid mit der Spezialität, bis die EU-Zollbehörden ihn stoppten – weil sie nicht wussten, in welche Produktkategorie sie die Eier einstufen sollten. Aber auch ohne diese Einnahmequelle: Die Nachfrage nach den Insekten steigt ständig, aber Redon will die Anfragen gar nicht mehr alle bearbeiten. Zumindest nicht so wie bisher. Und er erklärt auch, warum: »Wo schmeckt der Champagner am besten? In der Champagne. Mit den Insekten ist das genauso. Dort, wo sie leben, schmecken sie viel besser.« Statt die Köstlichkeiten nur hier zu sammeln und nach Mexiko-Stadt zu den Gourmets zu karren, will er, dass die Gourmets zu ihm in die Wüs­te kommen. Und wer dies tut, erlebt Außergewöhnliches.

Jeeptour für Gourmets: Falstaff war mit dabei
Redon brettert mit seinen Gästen im Geländewagen querfeldein durch die ruppig-schöne Landschaft mit ihren endlosen Kakteenfeldern. Mitten im Nichts bleibt er dann stehen und beginnt seine Essensjagd. Mit gesenktem Blick schleicht er um die Agaven, kniet immer wieder nieder und inspiziert Löcher im ausgetrockneten Boden – bis er einen Ameisenbau gefunden hat. Die Escamoles, die Eier ihrer Königinnen, galten schon den Azteken als die Speise der Könige. Das Kilo wird für über hundert Dollar gehandelt, ein astronomischer Preis für Mexiko. Die Tiere, die sie legen, nisten unter den Wurzeln mancher Agaven – wer sich von ihren schmerzhaften Bissen nicht abschrecken lässt, kann sie unter Carlos’ Anleitung selbst ausgraben und ernten. Ganz frisch aus dem Bau haben sie noch eine zarte Säure – ein besonders geschätzter Geschmack, den auch das »Pujol« nicht bieten kann, weil er bereits wenige Minuten nach der Ernte verfliegt.

Carlos zeigt seinen Gästen, wie die Löcher aussehen, die die Gusano de Maguey in den Agavenblättern hinterlassen, und wie man die Larven aus ihren Höhlen zieht. Frisch aus der Agave genommen, greifen sie sich kalt an und prall von all dem Kaktussaft. Er zeigt seinen Besuchern, wie sie die Xahue auf den Ästen der Mesquite-Bäume finden und wie sie aussehen, wenn sie noch zu jung sind, um gegessen zu werden. Er führt vor, welche Blätter des Nopales-Kaktus frisch und daher besonders schmackhaft sind. Mit einer Machete hackt er die bis zu drei Meter hohen Blütenstände der Agaven um, um an ihre köstlichen Knospen zu kommen – der Kaktus blüht nur einmal in seinem Dasein, dann aber bildet er Dutzende Blüten, die gebraten, mariniert oder roh im Salat gegessen werden können. Und im Sommer, wenn die Wüste nach dem ersten Regen grünt, sammelt er mit seinen Touristen als Draufgabe die dann allgegenwärtigen Heuschrecken.

Nopales-Kaktus: Die Früchte sind essbar und auch als Kaktusfeigenbekannt / © Shutterstock
Nopales-Kaktus: Die Früchte sind essbar und auch als Kaktusfeigenbekannt / © Shutterstock

Geldgierige Plünderer auf der Jagd nach Delikatessen
Die Wüste ist ein überaus empfindliches Ökosystem, und die Jagd nach ihren wertvollen Delikatessen nimmt durch die große Nachfrage immer absurdere Ausmaße an: Geldgierige Plünderer räumen Ameisennester bis auf das letzte Ei aus und bedrohen damit den Fortbestand des Stammes. Sie nehmen keine Rücksicht auf die Agavenwurzeln, unter denen die Krabbler nisten, und von den Xahue-Käfern gibt es ohnehin nicht mehr viele, seit ihr Lebensraum, der Mesquite-Baum, für die örtlichen Kohleminen massiv gerodet wurde.

Carlos hat vor einiger Zeit begonnen, die Mesquite-Bäume wieder aufzuforsten – nicht nur, um mehr Käfer zu ernten, sondern auch, weil die Bäume mit ihren Wurzeln Wasser im Boden speichern und der Gegend einen natürlichen Schutz gegen Erosion bieten. In der Schule des Dorfes hat er einen Garten angelegt, in dem die Kinder Nopales-Kakteen und anderes Gemüse züchten, das Carlos ihnen für seine Küche abkauft. Er hat sieben Männer aus der Gegend eingestellt, die für ihn eine kleine Farm gebaut haben, mit Seminarraum, Küche und Regenwassertanks. Das Haupthaus schmiegt sich an einen felsigen Hang voller Kakteen, von der Terrasse genießt man einen herrlichen Ausblick über das Tal. Hier, unter dem Wüstensternenhimmel, werden die Gäste bewirtet.

Später, wenn genug Touristen kommen, sollen Hütten mit Gästezimmern folgen. Auch diese Gäste werden dann mit Redon auf Safari gehen und in der Wüste nach Delikatessen suchen. Und wer nach der Tour und dem Abendessen dann müde und satt in sein Bett fällt, der weiß: Die Wüste lebt nicht nur, sie schmeckt auch noch köstlich.

»Champagner schmeckt in der Champagne am besten. Mit Insekten ist das genauso. Dort, wo sie leben, schmecken sie viel besser.« – Carlos Redon, Delikatessenjäger in der Wüste / © Tobias Müller
»Champagner schmeckt in der Champagne am besten. Mit Insekten ist das genauso. Dort, wo sie leben, schmecken sie viel besser.« – Carlos Redon, Delikatessenjäger in der Wüste / © Tobias Müller

WEIN AUS DER WÜSTE
Arizona blüht als Weinregion auf. Nicht nur in Mexiko, auch im benachbarten Amerika stammen immer mehr Produkte aus der Wüste. Im Bundesstaat Arizona etwa, der zu einem Drittel aus Wüste besteht, entwickelt sich derzeit eines der aufstrebensten Weinanbaugebiete der USA. Die Erzeugnisse der exquisiten Weingüter Alcantara Vineyards, Page Springs Cellars und Javelina Leap Vineyard sind mittlerweile bis über die Grenzen der USA hinaus bekannt. Das größte unter ihnen heißt Verde Valley und liegt ca. 160 Kilometer nördlich von Phoenix. Dort gibt es genug Sonne und ­Wärme, die den Früchten einen besonderen Geschmack verleihen – dies spiegelt sich letztlich im Aroma des Weins wider.

Im Weißen Haus schätzt man den »Wein aus der Wüste« schon lange, seit 1989 wird er an Gäste des Präsidenten ausgeschenkt. Mehr als ein Dutzend Weinberge und 63 Weingüter umfasst Arizona bereits.

Mehr Infos: www.arizonawine.org


Text Tobias Müller
Aus Falstaff Nr. 08/2013