Die Cantine Stucky-Hügin über dem Lago Maggiore. Werner Stucky legte in den 1980er-Jahren den Grundstein für den Qualitätsweinbau im Tessin.

Die Cantine Stucky-Hügin über dem Lago Maggiore. Werner Stucky legte in den 1980er-Jahren den Grundstein für den Qualitätsweinbau im Tessin.
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Tessin: Das Land des Merlot

Vergleicht man die sechs Weinregionen der Schweiz anhand der Grösse der Rebflächen, so belegt das Tessin den fünften Rang. Etwas mehr als 1100 Hektar stehen hier unter Reben. Was die Qualität betrifft, spielt die Rotweinregion im Süden der Alpen jedoch ganz vorne mit – insbesondere, seit viele Produzenten die Eleganz für sich entdeckt haben.

Im Jahr 2022 war es besonders augenscheinlich: Das Tessin ist und bleibt die Sonnenstube der Schweiz. Mehr als 2500 Sonnenstunden wurden an den Wetterstationen in der italienischen Schweiz registriert – mehr als irgendwo anders im Land. Auch wenn sich hieraus schliessen lässt, dass das Tessin nur sonnig und trocken ist, fallen Niederschläge hier in normalen Jahren nicht zu knapp. Die hohe Sonneneinstrahlung, verbunden mit einer guten Wasserversorgung, beschert dem Landstrich erst­klassige Voraussetzungen für den Weinbau. Seinen Ursprung hat der Tessiner Wein zu Zeiten der Römer, die Tessiner Weinlandschaft, wie wir sie heute kennen, wurde aber erst vor etwas mehr als 100 Jahren begründet.

Wie der Merlot ins Tessin kam

Wie die meisten anderen Weinregionen Europas erlebte der Tessiner Weinbau mit der Reblauskrise Ende des 19. Jahrhunderts einen einschneidenden Niedergang. Sein Wiederaufbau begann ab 1902 mit der Schaffung eines Wanderlehrstuhls für Weinbau, besetzt durch den Agronomen Alderige Fantuzzi. Dieser brachte 1904 und 1905 die ersten Merlot-Stöcke ins Tessin und ­kelterte bereits 1906 den ersten Wein daraus. Die Ergebnisse überzeugten und Fantuzzi war schnell gewiss, die optimale Sorte für das Tessin gefunden zu haben. Allerdings brauchte es noch einige Jahre Überzeugungsarbeit, bis der Merlot seinen Siegeszug antrat. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg setzte sich die Sorte wirklich durch, als ihr Anbau durch Subventionen gefördert wurde. In der Folge verdrängte die ­Sorte die meisten anderen Varietäten – heute sind rund 80 Prozent der 1100 ­Hektar ­Rebfläche im Tessin mit Merlot bestockt.

Nach seinem Durchbruch als Traubensorte erlebte Merlot im Tessin mehrere Stilwechsel. In den Anfangsjahren galt der Merlot – nett ausgedrückt – als robuster Wein mit grossem Reifebedürfnis. Um in der Deutschschweiz Anklang zu finden, näherten sich die Tessiner dem damals ­beliebten Landweinstil an und der weiche, süffige, bereits früh trinkbare Merlot del Ticino war geboren. Anfang der 1980er-Jahre folgte die nächste Stilrevolution im Tessin. Es waren Einwanderer mit heute berühmten Winzernamen, die damals frischen Wind in die Region brachten. Werner Stucky, Daniel ­Huber, Adriano Kaufmann, Eric ­Klausener und Christian Zündel, sie alle kamen ­damals ins Tessin und begannen, Merlot-Weine nach Bordeaux-Vorbild zu keltern. Stilbildend waren die verlängerte Maischegärung und der Ausbau im Barriquefass.

Der Merlot erlebte im Tessin mehrere Stilwechsel. Derzeit Scheinen Frische und Eleganz hoch im Kurs zu sein.

Bald wurden der Handel und die Presse auf die neuen Weinmacher aufmerksam und es entstand eine grosse Dynamik in der ­Region. Eine Zeit, in der viele neue, heute ­wichtige ­Betriebe entstanden. 1981 ­erwarb Meinrad Perler das Tenimento dell’Ör bei Arzo und legte den Grundstein für die erfolgreiche Agriloro SA. Zwei Jahre später gründete Angelo Delea seinen Betrieb. 1985 folgte das Weingut ­Vinattieri, das von Luigi Zanini ins Leben gerufen wurde. Dieses leitete die legendäre Weinfamilie Zanini bis ins Jahr 2021, bevor sie sich voll und ganz auf ihr Castello Luigi konzentrierte. Die Pioniere in den 80er-Jahren inspirierten viele weitere Weinmacher. So formten sich etwa auch in den 90er-Jahren bis heute prägende Projekte. Das Topweingut Cantina Kopp von der Crone Visini hat seine Wurzeln in dieser Zeit, und Giorgio Rossi von der Azienda Mondò kelterte ebenfalls in den 90ern seine ersten Weine.

Die neue Eleganz

Wie das Bordeaux ist auch das Tessin ­Rotweinland. Weisse Traubensorten findet man im Tessin auf gerade mal 115 Hektar, insbesondere Chardonnay und ­Sauvignon. Dennoch vermarkten die Tessiner Weingüter weisse und roséfarbene Weine äusserst erfolgreich. Auch hier setzten sie auf den allgegenwärtigen Merlot und entwickelten ebenfalls Mitte der 1980er-Jahre den weiss gekelterten Bianco di Merlot.

Den ersten Wein dieser Art namens Terre Alte produzierte Feliciano Gialdi im Jahr 1986. Ein Jahr später folgte die Cantina Giubiasco mit ihrem bis heute überaus erfolgreichen Bucaneve. Die Cantina Giubiasco gilt bis heute landläufig als Begründerin des ­Tessiner Bianco di Merlot gilt. Mit dem Generationenwechsel in einigen renommierten Tessiner Weingütern sowie dem Aufkommen neuer Projekte erlebt der Merlot del Ticino seit einigen Jahren einen erneuten Stilwechsel. Während die Weine lange ­Jahre häufig stark vom Holzeinsatz geprägt waren und eher von Kraft als von Eleganz zeugten, überzeugen viele Tessiner Merlots der Neuzeit mit genau diesem Attribut. Weingüter wie Fawino oder die erst wenige Jahre alte Cantina Blass begeistern mit frischen, eleganten und behutsam ­extrahierten Gewächsen für Kenner – und auch bei den alteingesessenen Produzenten scheinen ­diese Tendenzen klar erkennbar.


Tessin auf einen Blick

Geografie

Das Tessin ist der einzige Schweizer Kanton, dessen gesamte Fläche südlich der Alpen liegt. Es zieht sich über rund 100 Kilometer vom Südrand der Alpen bis hin zum Rand der Po-Ebene. Die Region besteht aus zwei Zonen, welche durch den Berg Monte Ceneri voneinander getrennt sind: Im Norden liegt das von den Alpen geprägte Sopraceneri. Zu diesem Teil der Weinregion gehört auch das politisch zum Kanton Graubünden zählende Misox – ein Bergtal nahe Bellinzona. Das südliche ­Sottoceneri ist ein typisches Voralpengebiet.

Böden und Klima

Das Tessin gilt als die Sonnenstube der Schweiz und gehört zu den sonnenreichsten Gebieten des Landes – hohe Niederschlagsmengen sind jedoch nicht aussergewöhnlich. Im Sopraceneri um den Lago Maggiore dominieren Schwemmlandböden, während in den Seitentälern mehr Granit und weniger Humus zu finden sind. Im Sottoceneri wiederum – insbesondere im Mendrisiotto – sind Moränen­böden aus Kalk und Lehm vorherrschend.

Traubensorten

Rund 80 Prozent der rund 1130 Hektar Rebfläche sind mit Merlot bestockt. Dieser wird nicht nur zu Rotwein verarbeitet, sondern in beträchtlichen Mengen auch weiss oder roséfarben gekeltert. Darüber hinaus sind ungefähr 20 weisse und rote Traubensorten zu finden – von der heimischen Bondola und Americano-Trauben über Nebbiolo, Cabernet Sauvignon und Cabernet Franc bis zu Pinot Noir, Chardonnay und Sauvignon Blanc.

Auswahl wichtiger Produzenten


Benjamin Herzog
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