Lars Eidinger überraschte das Publikum in den vergangenen beiden Jahren mit seiner völlig neuen Interpretation des »Jedermann«. Kein selbstbewusster Macho war am Domplatz zu sehen, sondern ein grauer, weißer Mann, dessen Zeit endgültig vorbei ist. An seiner Seite die strahlende Buhlschaft Verena Altenberger.

Lars Eidinger überraschte das Publikum in den vergangenen beiden Jahren mit seiner völlig neuen Interpretation des »Jedermann«. Kein selbstbewusster Macho war am Domplatz zu sehen, sondern ein grauer, weißer Mann, dessen Zeit endgültig vorbei ist. An seiner Seite die strahlende Buhlschaft Verena Altenberger.
© Salzburger Festspiele / Matthias Horn

»Jedermann«: Wie eine Verlegenheitslösung Theatergeschichte schrieb

Die Salzburger Festspiele und der »Jedermann« gehören zusammen, schon seit über hundert Jahren. Versuche, den dekadenten Prasser vom Domplatz zu verjagen, gab es zwar immer wieder, doch »Jedermann« ließ sich nicht vertreiben – jedenfalls nie für lang.

Schon die allerersten Salzburger Festspiele wurden mit Hugo von Hofmannsthals Theaterstück »Jedermann« eröffnet. Das war am 22. August 1920. Und immer noch – ein Jahrhundert später – ist das Spiel vom Sterben des reichen Mannes auf dem Salzburger Domplatz der Auftakt für das wohl berühmteste Kulturfest der Welt. Man könnte meinen, Hofmannsthal habe schon beim Schreiben seines Mysterienspiels den Domplatz vor Augen gehabt. Denn es gibt wohl keine Kulisse, vor der sich die Geschichte des gewissenlosen Lebemanns, der erst angesichts des nahen Todes seine Missetaten bereut und seinen Glauben findet, besser erzählen ließe als ebendort. Doch so war es nicht. 

Die Uraufführung des »Jedermann« fand bereits am 1. Dezember 1911 in Berlin statt, und zwar im Zirkus Schumann, der gleich 5.000 Zusehern Platz bot. Der Regisseur war niemand anderer als der berühmte Theatermacher Max Reinhardt. Zuvor hatte er seinem Freund Hofmannsthal zugesetzt, er möge endlich das Stück so schnell wie möglich fertigstellen, schließlich hatte sich der Dichter bereits acht Jahre lang mit dem Stoff befasst. Das englische Mysterienspiel »Everyman« aus dem 16. Jahrhundert diente Hofmannsthal als Vorlage. Ihn ebenso wie Reinhardt faszinierte die Handlung sehr, schien sie doch geeignet, nicht nur das Bildungsbürgertum, sondern die breite Masse anzusprechen. Die beiden sollten recht behalten. Der Tod geht nun einmal jede und jeden etwas an – ohne Ausnahme. Die Kritiker verrissen das Stück zwar, das Publikum aber feierte den »Jedermann« und seinen Darsteller, den berühmte Ale­xander Moissi, begeistert. Bald war das Stück an vielen deutschsprachigen Theatern zu sehen. Am Burgtheater in Wien fand 1913 die Erstaufführung statt.  

Klaus Maria Brandauer 
spielte den Jedermann in den 1980er-Jahren und genoss es, der »Faschingsprinz« zu sein.
© Archiv der Salzburger Festspiele / Photo Harry Weber
Klaus Maria Brandauer spielte den Jedermann in den 1980er-Jahren und genoss es, der »Faschingsprinz« zu sein.

»Jedermann« – Eine Verlegenheitslösung

Ursprünglich hatten weder Hofmannsthal noch Reinhardt geplant, die ersten Festspiele mit dem »Jedermann« zu eröffnen. Vielmehr wollten sie Caldérons Fronleichnamsspiel »Das Große Welttheater« in einer Bearbeitung von Hofmannsthal aufführen. Zu Beginn des Sommers 1920 zeichnete sich jedoch ab, dass der Dichter mit seiner Arbeit nicht fertig würde. So kam es zu der Verlegenheitslösung. Vor allem pragmatische Gründe gaben den Ausschlag, sich für den »Jedermann« zu entscheiden. Das künstlerische Team musste nicht erst formiert werden, es war jenes, das sich schon 1911 bei der Uraufführung in Berlin zusammengefunden hatte. Auch die Kostüme waren schnell organisiert; Reinhardt bat kurzerhand das Wiener Burgtheater, ihm die vorhandene »Jedermann«-Ausstattung zur Verfügung zu stellen. Was auch geschah.

Eigentlich hätte das große Ereignis in der Sommerreitschule der Hofkaserne (der späteren Felsenreitschule) stattfinden sollen. Es kam aber anders. Während eines nächtlichen Spaziergangs über den Domplatz, nur wenige Wochen vor der Premiere, hatte Reinhardt die Eingebung, »Jedermann« dort aufzuführen. Schon am nächsten Tag holte er die Genehmigung des damaligen Erzbischofs, Ignatius Rieder, ein. Hofmannsthal war von der Verlegung des Spielorts anfänglich nicht begeistert, er fürchtete eine »Profanierung«, wie er später gestand. Reinhardt schenkte dem Zaudern seines Freundes kein Gehör, hatte er doch alle Hände voll damit zu tun, all die Möglichkeiten, die ihm dieser einzigartige Ort bot, in seine Inszenierung zu integrieren. Die Klänge der Domorgel sollten durch das offene Kirchenportal zu den Zuschauern auf der Tribüne dringen, ebenso wie die Stimme der Jedermann-Rufer hoch oben von den umliegenden Kirchentürmen. 

Begeisterung und Vorbehalte

Bei der Premiere dürften – liest man die Aufzeichnungen von Bernhard Paumgartner, dem damaligen Direktor des Mozarteums – höhere Mächte die Hände im Spiel gehabt und für ungeplante Effekte gesorgt haben:

Ein Wetter drohte vom westlichen Himmel. Plötzlich aber, als Moissi-Jedermann das Vaterunser sprach, brach die Sonne mit zarter Abendmilde durch die Wolken. Die Krone der Domfassade, die Türme erstrahlten in verklärtem Licht. Zum ersten Mal flog der Taubenschwarm auf. Tiefe Ergriffenheit senkte sich über uns alle. Reinhardt selbst war vor Bewegung kaum fähig, zu sprechen.

Und der Erzbischof soll sogar geweint haben.

Paumgartners Schilderung kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass es auch große Ressentiments gegen das Spektakel am Domplatz gab, und zwar von allen Seiten. Viele Klerikale nahmen Anstoß daran, dass sich die Schauspieler im Dom vor dem Sakramentsaltar schminkten und Kirchenglocken für das Spiel eingesetzt wurden, berichtet der Theaterkritiker Andreas Müry in seinem Essay »Jedermann darf nicht sterben«. Sozialdemokraten wiederum lamentierten über die hohen Eintrittspreise, und die Antisemiten der Stadt standen Reinhardt, Hofmannsthal und Moissi ihrer jüdischen Wurzeln wegen ohnehin ablehnend gegenüber. Dass die ersten beiden getaufte Katholiken waren, änderte daran nichts. 

Die Nationalsozialisten waren es auch, die das Stück 1938 vom Spielplan der Festspiele nahmen – für sieben lange Jahre. Aber bereits 1946, ein Jahr nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, stand der »Jedermann« mit Ewald Balser in der Hauptrolle wieder am Programm. Und Attila Hörbiger kehrte ein Jahr später – frisch entnazifiziert – wieder als Titelheld auf den Domplatz zurück. Schon vor dem Krieg hatte »der Naturbursch voll strotzender Lebensfreude« in der Hauptrolle brilliert. Für Reinhardt war Hörbiger die Idealbesetzung schlechthin gewesen: »Wissen Sie, Hörbiger, der Moissi war der B’sondermann, aber Sie sind der Jedermann«, sagte er zu ihm, nachdem er 1935 das erste Mal am Domplatz aufgetreten war. 

Rund 80 Jahre nach seinem Großvater Attila Hörbiger war Cornelius Obonya als reicher Lebemann in Salzburg zu sehen.
© Salzburger Festspiele / Forster
Rund 80 Jahre nach seinem Großvater Attila Hörbiger war Cornelius Obonya als reicher Lebemann in Salzburg zu sehen.

Aus einem kleinen Buben wird ein Jedermann

Auch auf einen siebenjährigen Volksschüler in der Oststeiermark machte Attila Hörbiger tiefen Eindruck: »Ich erinnere mich an ein Foto von Hörbiger als Jedermann in unserem Lesebuch. Starr sah er nach vorne, doch hinter ihm stand bereits der Tod. Ein äußerst dramatisches Bild, das mich schon als Kind völlig in den Bann gezogen hat.« Dass er über 50 Jahre später selbst den Jedermann darstellen würde, hätte sich der kleine Bub namens Peter Simonischek damals nie träumen lassen.  

Bis Simonischek 2002 die Chance bekommen sollte, den reichen Prasser in Salzburg zu spielen, waren noch neun andere große Darsteller vor ihm an der Reihe. Max Reinhardt jedoch, der 1938 in die USA geflohen war, konnte nicht mehr erleben, wie Will Quadflieg, Walter Reyer, Curd Jürgens, Maximilian Schell, Klaus Maria Brandauer, Gert Voss – um nur einige zu nennen – den »Jedermann« anlegten. Denn für ihn gab es keine Rückkehr nach Österreich, er starb 1943 in New York an den Folgen eines Schlaganfalls. Der Geist seiner Inszenierung strahlte jedoch noch viele Jahrzehnte über seinen Tod hinaus. Freilich gab es immer wieder neue Anläufe, einen neuen, anderen »Jedermann« zu präsentieren, doch erst, als der versierte Theaterregisseur Jürgen Flimm 2002 die Leitung des Schauspiels in Salzburg übernahm, kam es zu der ersten echten Neuinszenierung. Flimm beauftragte Regisseur Christian Stückl, der zuvor in Oberammergau die Passionsspiele modernisiert hatte, den »Jedermann« zu reformieren, und zwar mit Peter Simonischek in der Hauptrolle.

Der stattliche Steirer mit seiner silbrigen Mähne wandelte sich auf der Bühne vom oberflächlichen Playboy zum gebrochenen Mann im Büßerhemd. Und Jens Harzer, dieser nackte, lehmbeschmierte, gesichtslose Tod, brachte mit seinem »Herzgriff« nicht nur Jedermann Simonischek vor Angst zum Erstarren, sondern auch die Zuseher. Während die Buhlschaften an der Seite von Simonischek oft wechselten, gab dieser erst nach acht Sommern die Staffel an den charismatischen Burgschauspieler Nicholas Ofczarek weiter. Der meisterte die Herausforderung mit Bravour und verlieh dem »Jedermann« als jähzorniger, etwas verlotterter Kraftlackl ein frisches Gepräge. Simonischek sagte später über seinen Nachfolger: »Für mich war er einer der besten in dieser Rolle.«

Cornelius Obonya, Tobias Moretti, Philipp Hochmair, der 2018 über Nacht für den erkrankten Moretti einsprang, und zuletzt Lars Eidinger – ob und wie sie in ­Erinnerung bleiben werden, lässt sich erst mit großem zeitlichem Abstand sagen. Eines ist allen Protagonisten gemeinsam: ­Jeder von ihnen wollte der Rolle neues ­Leben einhauchen. 

»Weibliche Machtübernahme«

Lars Eidinger, dem Star der Berliner Schaubühne, wurde, als die Festspielleitung bekannt gab, dass er zum hundertsten Geburtstag der Festspiele den »Jedermann« spielen werden, die Latte allerdings besonders hoch gelegt. Mit ihm werde »eine ganz neue Zeitrechnung für Hofmannsthals Drama beginnen«, hieß es. Tatsächlich präsentierte Regisseur Michael Sturminger am 17. Juli 2021 eine Inszenierung, bei der alles auf den Kopf gestellt worden war, ganz bewusst. Das Stück sei für ihn nichts anderes als ein Abgesang auf das Patriarchat, erklärte Lars Eidinger. Und Buhlschaft Verena Altenberger ist nicht bloß Jedermanns Gespielin, sondern dessen Partnerin auf Augenhöhe. »Ich stelle mich zur Verfügung, um auf der Bühne als alter weißer Mann zu zeigen, wohin eine von Männern dominierte Gesellschaft führt. Die Zeit schreit nach weiblicher Machtübernahme.« 

Max Reinhardt kam bei einem nächtlichen Spaziergang wenige Wochen vor der Premiere die Idee, »Jedermann« am Domplatz aufzuführen. Eine bessere Kulisse könnte es für das katholische Mysterienspiel nicht geben.
© Salzburger Festspiele / Marco Borrelli
Max Reinhardt kam bei einem nächtlichen Spaziergang wenige Wochen vor der Premiere die Idee, »Jedermann« am Domplatz aufzuführen. Eine bessere Kulisse könnte es für das katholische Mysterienspiel nicht geben.

Dass Eidingers Ansicht so manche empörte, versteht sich von selbst. Gut so. Ruhig soll es um den Jedermann ohnehin nie werden. Rummel und Aufmerksamkeit um Figur und Darsteller sind Teil des Programms: »Man spielt eben nicht nur diese eine herausgehobene Rolle, sondern ist für die Salzburger auch der Faschingsprinz, solange man der Jedermann ist«, sagte Klaus Maria Brandauer einmal. »Diese Vereinnahmung muss man aushalten können, sonst hat man keine Freude daran.« Die allermeisten Jedermänner genossen es, im Mittelpunkt zu stehen, jedenfalls für gewisse Zeit. Diesen Sommer wird Burgschauspieler Michael Maertens als reicher Mann, den der Tod zur Unzeit holt, am Domplatz stehen. Er wird, so glaubt der bekennende Atheist Maertens, vorerst der letzte männ­liche Jedermann sein. 


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Judith Hecht
Autor
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