Genussland Thüringen: Anarchie im grünen Herzen

Zwischen deftiger Hausmannskost, neuen Kücheninnovationen und ökologischen Produkten: In Thüringen findet gerade eine Revolution statt, die durch den Magen geht. Ökologie und Naturnähe spielen dabei entscheidende Rollen.

Hier in Thüringen ist Zeit die wichtigste Komponente auf dem Pfad zum Genuss. Die Wege sind lang, zum Beispiel wenn man das mittelalterliche Stadtzentrum von Erfurt verlässt und nach Bischleben, einen der äußeren Stadtteile, fährt. Über eine steile Treppe geht es auf einen Hügel hinauf. Hinter romantisch verwilderten Büschen erhebt sich eine Villa, in der ein besonderes Restaurant, die »Bachstelze«, untergebracht ist, ein massives Anwesen, das majestätisch über dem Dörfchen thront. Maria Groß, 1979 im nahegelegenen Sömmerda geboren, hat das Gebäude und das Grundstück vor acht Jahren mit ihrem Lebenspartner Matthias Steube übernommen. Die »Bachstelze«, ist kein Restaurant, in dem man Spitzenküche erwarten würde – doch das täuscht, denn hier kocht die einstmals jüngste Sterneköchin Deutschlands.

Thüringen, »das grüne Herz Deutschlands«, wie das Bundesland in seiner Marketingkampagne jahrelang für sich geworben hat, ist eher für deftige Hausmannskost, für Klöße und Bratwürste, Rostbrätel und Senf bekannt. Dass hier anspruchsvolle Haute Cuisine zu finden ist, war lange Zeit so gut wie niemandem bekannt. »Zumindest im Rest der Republik«, sagt Groß. In der »Bachstelze« führt sie vor, wie die traditionsreiche Küche ihrer Heimat neu interpretiert werden kann und wie man Thüringen aus dem kulinarischen Winterschlaf aufweckt. Insofern ist ihr Restaurant sinnbildlich für die Küchenrevolution, die gerade in Thüringen stattfindet.

Teile der Erfurter Altstadt sind bereits seit dem elften Jahrhundert besiedelt.
Teile der Erfurter Altstadt sind bereits seit dem elften Jahrhundert besiedelt.

Seit 2023 können Gourmets dort drei Lokale mit je einem Stern ansteuern. Neben dem bisher ausgezeichneten »BjoernsOx« in ­Dermbach in der Rhön zählen seit Anfang des Jahres das »Masters« in Blankenhain und das »Clara – Restaurant im Kaisersaal« in Erfurt dazu. Eins fällt dabei direkt auf: die Sterneküche Thüringens ist ländlich geprägt, bisweilen deftig, alle drei genannten Restaurants bieten Menüs, die stark an den landestypischen Spezialitäten orientiert sind. Im Gastraum der »Bachstelze« steht eine massive Bar aus Holz, die Stühle sehen urig aus. Seit 1931 gibt es hier in dem Haus Gastronomie­betriebe, nach der Wende versank das Anwesen jedoch im Dornröschenschlaf. Im ersten Moment wirkt das Interieur wie ein Sammelsurium von Kuriositäten. Doch das Innere der Backsteinvilla oberhalb der Gera, die hier eher ein kleiner Bach ist, folgt einem besonderen Designkonzept. »Heimat neu interpretiert, auf die gute ­Weise«, sagt Groß.

Der Starke Drang Nach Freiheit

Thüringen sei von der Mentalität her vergleichbar mit Süddeutschland, das merke man auch in der Küche und den Menschen. Doch dazu käme auch die ostdeutsche Komponente – der starke Drang nach Freiheit, die Lust an einer kritischen Haltung gegenüber Regierenden und Obrigkeiten und die Bodenständigkeit. Der Name »Maria Ostzone«, unter dem Groß ihre eigene Marke schuf, sei eine humorvolle Provokation nicht nur gegenüber der Spießigkeit der Beamtenstadt Erfurt, sondern auch um ihre westdeutschen Gäste zu ärgern – denn politisch schätzt sie die kritische Haltung und den Freiheitsdrang der Thüringer. »Die Bezeichnung ›Ostzone‹ war in der DDR nicht beliebt, sondern wurde uns von den Westdeutschen verpasst. Insofern beinhaltet der Begriff durchaus eine politische Botschaft: Ich stehe für freies Denken, eine leichte Prise Anarchie und gegen Radika­lität«, erklärt sie.

Die Blicke der Anderen

Groß ist wütend auf die gesellschaftliche ­Polarisierung und auf das Ostdeutschen-­Bashing. »Viele Probleme, die das ganze Land hat, werden immer noch auf den Osten projiziert. Doch viele Dinge sind keine ostdeutschen Herausforderungen, sondern bundesweit schwierig.« Sie selbst ist eine Erfolgsgeschichte und sagt, dass viele ihrer Freunde aus der Gastronomie in Thüringen ähnlich erfolgreich ihren Weg bestreiten. Groß wuchs in Straußfurt auf und begann nach dem Abitur zunächst ein Studium der Philosophie in Leipzig und Berlin, brach dieses jedoch zugunsten einer Kochausbildung im Berliner Restaurant »Guy« ab. 2013 zieht es sie zurück in die Heimat. Als Küchendirektorin des »Kaisersaals« in Erfurt ist sie für das Restaurant »Clara«verantwortlich. 2014, mit gerade einmal 33 Jahren, erkocht sie den ersten Stern und wurde dadurch zur jüngsten Sterneköchin des Landes. Ob sie immer in der Landeshauptstadt bleiben will, weiß sie noch nicht. »Mein Traum ist es, irgendwann einen Selbstversorgerhof im Nirgendwo zu haben. Der Einklang mit der Natur und ein gesundes Leben – das ist es, was zählt.« Die Nähe zur Natur ist es auch, was all die aufstrebenden Gastronomiebetriebe Thüringens verbindet.

Hier werden die grund­legenden Produkte wie Gemüse, Fleisch oder Milch nicht aus aller Welt eingeflogen, das meiste kommt direkt von umliegenden Betrieben und Höfen. Viele davon bauen organisch an. Das Bundesland mit seinen mehr als zwei Millionen Einwohnern ist ländlich geprägt, rund 35 Prozent der Fläche sind Wald. Das Thüringer Becken ist gar eine Art Versorgungskammer des gesamten Landes. Hier wird beispielsweise Spargel angebaut, der dem Beelitzer in nichts nachsteht. Maria Groß schwärmt auch von den Milchprodukten des Eichsfelds, das sonst für die mit Zitrus angereicherte »Vita Cola« berühmt ist. Besonders der Eichsfelder Schmandkuchen ist in dem Dreiländereck eine Art Nationalheiligtum. Liebhaber nennen ihn scherzhaft »Thüringer Pannacotta«. Seine Basis ist die Rohmilch der Eichsfelder Kühe, die in den meisten Fällen Weidehaltung und Stallhaltung erfahren. Jede Familie hat ihr eigenes Rezept für Eichsfelder Schmandkuchen. Er ist in der Region so beliebt, dass er sogar als Hochzeitstorte genutzt wird.

Auf dem familiengeführten Bio-Hof Scharf arbeiten vier Generationen Hand in Hand. Über 40 verschiedene Gemüsesorten werden dort inzwischen ökologisch angebaut.
Auf dem familiengeführten Bio-Hof Scharf arbeiten vier Generationen Hand in Hand. Über 40 verschiedene Gemüsesorten werden dort inzwischen ökologisch angebaut.

Thüringinger Aufholjagd

In den letzten Jahren setzen immer mehr Landwirtschaftsbetriebe auf ökologischen Anbau und vermarkten das auch selbstbewusst. So zum Beispiel der Biohof Scharf in Ollendorf, der in vierter Generation geführt wird. Viele gehobene Restaurants decken sich hier mit landwirtschaftlichen Waren ein. Scharf ist ein klassischer Landwirtschaftsbetrieb mit Ackerbau, Hofladen und Bio-Lieferservice, aber auch eine Pferdepension existiert auf dem Gelände. Besonderheit des Hofes sind die »Mietbeete«, wo sich Gastronomen Ackerflächen zum Anbau mieten können. Maria Groß nutzt dieses Angebot bereits seit Jahren. Wichtig sei ihr die gute und regionale Herkunft auch beim Fleisch – besonders bei Wildprodukten.

Seit vielen Jahren arbeitet sie mit Händlern aus dem ganzen Bundesgebiet. »Doch die besten Waren kommen oft hier aus der Region«, sagt Groß. Dazu gehört auch das Thüringer Wild, das gerade in den dünn besiedelten Gebieten des Thüringer Waldes lebt und sich durch beste Fleischqualität auszeichnet. Verarbeitet werden die frisch gejagten Tiere etwa bei Wildhandel Sauerbrey in Suhl, der die besten Restaurants Mitteldeutschlands mit Reh-, Hirsch- und Wildschweinbraten beliefert. »Es gibt hier das beste Wild, das in freier Natur aufwächst und sich aus dem reichen Angebot der Natur seine Nahrung sucht«, sagen die Inhaber. Gerade Thüringen sei dafür ein perfektes Fleckchen Erde heißt es bei Sauerbrey. »Wenige Regionen in Deutschland verfügen über eine so diverse Artenvielfalt und so gesunde Biotope.«

Nur die besten Grundzutaten sind Schokobaron Alexander Kühn gut genug für seine Erfurter Trüffelkreationen.
Nur die besten Grundzutaten sind Schokobaron Alexander Kühn gut genug für seine Erfurter Trüffelkreationen.

»Wir sind hier ein anarchischer Ort inmitten eines eher konservativen Bundeslandes«

Anarchische Mitte

Eine ähnliche Erfolgsgeschichte ist die Schokoladenmanufaktur Goldhelm aus Erfurt. Alexander Kühn, der vor fast zwanzig Jahren sein erstes Geschäft auf der Krämerbrücke eröffnet hat, wurde binnen weniger Jahre zum »Schokobaron« des Freistaats. Seine Tafeln, Trüffelkreationen, Eissorten und Pralinen sind immer noch ein Geheimtipp. Mittlerweile hat der Schokoladenhersteller aber mehr als 80 Mitarbeiter. »Ich stehe auf der Krämerbrücke. Wird diese Baustelle jemals ein Laden? Wird meine Schokolade den Geschmack der Leute treffen? All das und noch viel mehr geht mir durch den Kopf«, erinnert er sich an die damalige Zeit. »Heute beschäftigen wir uns mit Kakaobohnen aus der ganzen Welt. Nur beste Grundstoffe sind uns gut genug für eine außergewöhnliche Schokolade«, heißt es auf der Webseite. Seine letzte große Investition war ein Hof in Wülfershausen, wo er vor mehr als einem Jahr seinen »Goldhelm Schokoladenhof« eröffnet hat. Auch dort findet die Manufakturproduktion von Schokolade statt. Bei Goldhelm spielt Innovation und die Nutzung von nachhaltigen und frischen Produkten die wichtigste Rolle. Das trägt auch über Thüringen hinaus – am Marktplatz in Leipzig hat er eine Filiale. Mutig sind sie alle hier. Das spürt man bei der Fahrt durchs Land.

Auch die Thüringer Landesregierung hat das kulinarische Potenzial erkannt und den Ausbau der Infrastruktur dafür in die Tourismuspläne geschrieben. Ob das funktioniert, wird sich zeigen. Das sagen auch die Gastronomen. Viele, die hier vor Jahren anfingen, haben das aus eigenem Antrieb, ganz allein und mit viel Risiko getan. »Wir sind hier ein anarchischer Ort inmitten eines eher konservativen Bundeslandes. Dafür lieben uns unsere Gäste – und wir wollen diese Lebensart modernisieren, gemeinsam mit unseren befreundeten Partnern«, bilanziert Gastronomin Groß. Langsam geht die Sonne über der »Bachstelze« unter, und es gibt ein Glas Rosé für die ersten Gäste, die zum Abendessen eintreffen. Seliger kann man den Abend kaum ausklingen lassen als auf der weitläufigen Terrasse mit Blick über die grünen Hügel von Thüringen.


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Kevin Hanschke
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