Ein Stück Sonne, ein Stück Freiheit: Flotter wurde italienisches Lebensgefühl nie dargestellt.

Ein Stück Sonne, ein Stück Freiheit: Flotter wurde italienisches Lebensgefühl nie dargestellt.
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Vespa: Die Ikone rockt und rollt

Kein zweites Gefährt steht so sehr für Lebensfreude, Sinnlichkeit und Italianità wie die 70 Jahre alte Wuchtbrumme aus Pontedera.

Ein einziger Freiheitsritt unter großem Gekreische: Ihren ersten weltberühmten Auftritt hatte die Vespa 1953, als Audrey Hepburn den schon damals begehrten Roller in «Ein Herz und eine Krone» auf ständigem Frontalkurs mit dem Stadtverkehr pilotierte – und das ausgerechnet durch Rom. Hinter ihr, die damals eine Prinzessin spielte, klammerte Gregory Peck, der das Ganze ziemlich hinreissend fand.

Leinwandheldin

1953 – sieben Jahre nach der Entwicklung des pfiffigen Zweirads durch Enrico Piaggio, den Luftfahrtingenieur Corradino D’Ascanio und den Designer Mario D’Este – gab es bereits zehntausend Piaggio-Servicestellen weltweit, unter anderem in Amerika und Asien, und einen Vespa-Club, der weit mehr als 50'000 Mitglieder umfasste.
Sechs Jahre später donnerte das kultige Fahrzeug erneut publikumswirksam über die Leinwand: in Fellinis Kultfilm «La dolce vita», in dem sich die Jeunesse dorée Roms, stets gefolgt von einem Tross Paparazzi, die Nächte um die Ohren schlägt. So ging es Schlag auf Schlag: Die gesamte italienische Filmgeschichte der Nachkriegszeit kam ohne Vespa kaum aus, ihr Magnetismus sprang auch auf zahlreiche andere Regisseure über. Man sah sie in «American Graffiti» (1973), «Quadrophenia» (1979), «Der talentierte Mr. Ripley» (1999) und selbst in jüngeren Produktionen wie «Alfie» (2004) mit Jude Law. Fast immer stand sie nicht nur für italienisches Sein, sondern auch für Aufbruch, Wandel, Freiheit und Lebenshunger.

Neue Zeichen der Zeit

Doch wie kam es zu diesem weltumspannenden Kultphänomen, dessen Wurzeln eigentlich im Schiffsbau lagen? Rinaldo Piaggio, Vater des Unternehmens, das 1884 gegründet worden war, konzentrierte sich bis nach der Jahrhundertwende auf die Ausstattung von Luxusschiffen. Vor dem Ersten Weltkrieg erweiterte er sein Portfolio auf die Her­­stellung von Eisenbahnwaggons, Luxusbussen, ­Strassen­bahnen, Lastenwagenkarosserien und – stets in Verbindung mit all dem – Motoren.

Wespentaille auf Rädern

Nach dem Zweiten Weltkrieg – die Fabriken waren in den Katastrophenjahren zerstört worden – erkannten seine Söhne Rinaldo, Enrico und Armando die neuen Zeichen der Zeit und setzten den Fokus auf individuelle Mobilität. Unter der Federführung von Enrico entstand 1946 die erste Vespa. Sie sollte für den Massenmarkt erschwinglich sein und ein Konzept verfolgen, das nicht an Kriegsgerätschaft gemahnte, sondern Aufbruchstimmung signalisierte. So entstand ein Entwurf, der überhaupt nichts mit den bis dato existierenden Motorrädern zu tun hatte: freundliche Rundungen und eine schmale Taille, ein bisschen Kindchenschema, ein bisschen Sex-Appeal, ein bisschen praktisches Denken, das dem Fahrer Schutz vor Schmutz und Wind bieten sollte, und eine solide Technik obendrein. Beim Anblick des Prototyps rief Enrico Piaggio: «Es sieht wie eine Wespe aus!» Das war die Geburtsstunde der Vespa am 23. April 1946.
Die Normalausführung kostete 50'000 Lire, die Luxusversion mit Tachometer, einem Seitenständer und Weisswandreifen 61'000 Lire, produziert wurden im ersten Jahr insgesamt 2'484 Roller. Im Jahr darauf waren es bereits mehr als 10'000, 1948 schon 19'822 Stück, und ab 1950 startete man mit der Auslandsproduktion. Den Anfang machte der deutsche Lizenznehmer Hoffmann-Werke in Lintorf bei Düsseldorf, gefolgt von Großbritannien, Frankreich, Spanien und Belgien.
Auch in Indien, Indonesien und Brasilien wollte man sich der Erfolgsgeschichte des Rollers nicht entziehen. 1953 verliessen bereits 171'200 Wespen die weltweiten Werke, wobei im Laufe der Zeit interessante Ableger entstanden: der dreirädrige Kastenwagen «Ape» (italienisch für «Biene)» oder eine Spezialanfertigung, mit der Fallschirmjäger aus einem Flugzeug abspringen konnten.

Ära der Wuchtbrummer

In den frühen 1960er-Jahren kam eine neue Generation von sportlichen Vespas auf den Markt, die teilweise Geschwindigkeiten von mehr als 100 km/h erreichten (Vespa 180 SS, 1965). Damals war unter anderem Hoch-Zeit für die Mods, eine neue Jugendkultur ausgehend von der britischen Arbeiterklasse. Durch das kollektive Tragen von Mass- oder Markenkleidung und den unbedingten (!) Besitz eines italienischen Motorrollers sollten gesellschaftliche Grenzen niedergerissen werden. Tagsüber ging man arbeiten, abends wie wild tanzen, Moped glühen, trinken oder Rocker verprügeln. Gib Gas, ich will Spass, Baby!
1968 wurde eines der langlebigsten Mo­­delle entwickelt, die «Primavera». Anlässlich des 30. Geburtstags der Vespa wurde sie neu aufgelegt und aufgrund technischer Weiterentwicklung leistungsfähiger motorisiert als ihr Ur-Vorbild. 2007 berollte eine weitere «Primavera»-Erbin den Asphalt, die elegante Vespa «S». Sie erfuhr 2013 einen neuerlichen Innovationsschub und kam als verbrauchsschonende, umweltfreundliche «Primavera» in drei verschiedenen Stärken auf den Markt. Anlässlich des «Settantesimo»-Jubiläums im Vorjahr wurde das Modell in der Edel­lackierung «Azzurro 70» als Sonderedition (gemeinsam mit den Modellen «GTS» und «PX») vorgestellt.
«Azzurro» zählt auch zu den Songs, die man ewig im Ohr haben wird, genauso wie der Geschmack eines Negroni, den man unweigerlich am Gaumen verspürt, sobald einem der Motorensound und der Fahrtwind einer Vespa um die Ohren wehen. Ciao, amica, ciao!

Durch das kollektive Tragen von Markenkleidung und unbedingten Besitz eines italienischen Motorrollers sollten gesellschaftliche Grenzen niedergerissen werden.

Aus dem Falstaff Magazin Nr. 05/2017

Michaela Ernst
Michaela Ernst
Chefredakteurin Falstaff Magazin