Das Zusammensitzen bei Tisch ist eine der höchsten zivilisatorischen Leistungen des Menschen.

Das Zusammensitzen bei Tisch ist eine der höchsten zivilisatorischen Leistungen des Menschen.
© Honey & Bunny | Ulrike Köb | Daisuke Akita

Was macht eine gute Tisch-Gemeinschaft aus?

Das Künstler-Duo Honey & Bunny über das fragile Gleichgewicht bei Tisch.

Allein zu essen, ist eine Herausforderung. Man kommt vor Langeweile um und neigt demzufolge zu schlechter Unterhaltung aus allerhand Geräten. Einsame Essen verleiten nur selten zu Höchstleistungen in der Küche, insofern ist die Qualität auf dem Teller mau. Die Stimmung bleibt im Keller. Kulinarisch wertvolle Momente bleiben aus. Zu oft fris(s)tet man sich durch irgendeine Art von schneller Küche. Am Ende liegen Pizza- oder Asienkartons im Umfeld der Couch und der sprichwörtliche Stein im Magen.

Allein zu essen, ist ausserdem auch ein frustrierender Akt. So sind Frühstücksräume in mittelklassigen Businesshotels Urorte der Traurigkeit. An Tischen für zwei oder vier Personen sitzt jeweils ein Mann alleine und schlingt mit starrem Blick richtig heftige Küche in sich hinein. Eierspeise und Speck, Würstchen und Omelett. Schwermut und schweres Essen. Bleiernes Schweigen liegt über atmosphärebefreiten Ausspeisungsräumlichkeiten. Das Sinnbild kulinarischer Frustration.

«Miteinander zu essen, heisst auch Nahrung, Gedanken und Meinungen teilen zu wollen. Insofern ist Essen der friedlichste Akt, den es gibt.»
© Honey & Bunny | Ulrike Köb | Daisuke Akita
«Miteinander zu essen, heisst auch Nahrung, Gedanken und Meinungen teilen zu wollen. Insofern ist Essen der friedlichste Akt, den es gibt.»

Restaurants, Orte der Liebe

Gemeinsam zu essen, kann hingegen sehr schön, ja sogar lustvoll sein und im besten Fall zu anderen Lüsten führen. Tisch und Bett sind einander ziemlich nahe. Die Befriedigung der Lust hatte übrigens auch einen entscheidenden Anteil an der Entstehung des Restaurants. In Paris, angeblich die Stadt der Liebe, etablierten sich diese Lokale sehr schnell als Treffpunkte für mehr oder weniger «offizielle» Liebespaare. Die gehobenen Gastronomiebetriebe überboten einander mit aufwendigen, damals modischen Gastronomie- und Gestaltungskonzepten – und sie boten intime Nischen und Räume zum Essen und vielleicht auch mehr.

Das Restaurant an sich geht angeblich auf ein Lokal namens «Boulanger» zurück, das im Jahr 1765 in der französischen Hauptstadt eröffnete. Es war eine Suppenküche, serviert wurden nahrhafte Bouillons. Letztere verliehen der neu entstandenen Institution auch ihren Namen, denn die stärkenden Suppen, die die körperlichen Kräfte der Gäste «restaurieren» sollten, trugen den Beinamen «restaurant». Infolge der Französischen Revolution gewannen Restaurants rasch an Bedeutung: Die ehemaligen Bediensteten der entmachteten Aristokratie hatten durch den Umsturz ihre ArbeitgeberInnen verloren und gründeten deshalb Lokale, in denen sie ihre Dienstleistungen gegen Geld offerierten. Das noble und serviceorientierte Restaurant, wie wir es heute kennen, entstand.

Auch abgesehen von Restaurants essen wir Menschen an allen möglichen Orten gerne und so oft es geht gemeinsam. Familie, Stamm oder Aufsichtsrat suchen sichere Orte, um dort zivilisiert miteinander ein Essen zu zelebrieren. Mord und Totschlag sind verpönt, Verletzungen passieren höchstens verbal. Grundsätzlich versuchen wir Menschen aber, während der Kalorienzufuhr nett zueinander zu sein. Miteinander zu essen, heisst auch Nahrung, Gedanken und Meinungen teilen zu wollen. Wenn man so will, ist das Essen der friedlichste Akt, den es gibt. Nicht umsonst gilt die Tischgemeinschaft als Ideal.

Dafür gibt es sogar Regeln. Diese organisieren den Speiseablauf, legen das Hantieren mit den dafür vorgesehenen Werkzeugen fest und sagen uns, wie man eigens für das Essen gestaltete Möbel zu benutzen hat. Lümmeln oder Sesselwackeln sind bekanntlich ebenso unartig wie das Positionieren von Körperteilen an falschen Stellen. Ellenbögen oder Füsse dürfen nicht auf den Tisch. Der Kopf hingegen hat unter dem Tisch nichts zu suchen. Speisemöbel strahlen eine besondere Schwere aus und symbolisieren den enormen gesellschaftlichen und kulturellen Wert einer gemeinsamen Mahlzeit. Eine Tischgemeinschaft fixiert sich selbst für einen gewissen Zeitraum an einen bestimmten Ort und verharrt dort in relativer Bewegungslosigkeit. TischgenossInnen demonstrieren Anwesenheit und den Willen, gemeinsam zu sein und sich auszutauschen.

«Braucht es eine Hierarchie bei Tisch wirklich? Die Demokratisierung der Gesellschaft sollte sich auch beim Mahl manifestieren.»
© Honey & Bunny | Ulrike Köb | Daisuke Akita
«Braucht es eine Hierarchie bei Tisch wirklich? Die Demokratisierung der Gesellschaft sollte sich auch beim Mahl manifestieren.»

«Wo ich bin, ist oben»

Tisch und Stuhl strukturieren die Gruppe, stellen aber auch Hierarchien klar. Die Form des Tisches dient auch dazu, dem internen Gefüge der Gruppe Ausdruck zu verleihen und die Machtverhältnisse darzustellen. Während bei einem runden Tisch alle Sitzplätze gleichwertig sind, haben recht-eckige Tische einen Vorsitz. Schon in Wolfram von Eschenbachs «Parzival» (um 1200) sass der Hausherr am Tischhaupt. Auch klösterliche Gemeinschaften nutzten die gliedernde Wirkung des länglichen Tisches, an dem sich die Brüder nach Rang und Alter «auffädelten». Bis heute erfolgt die Zuteilung des Sitzplatzes nach der jeweiligen Stellung innerhalb der Gruppe und hängt von Geschlecht, Alter, Rang, Stand und weiteren Kriterien ab. Traditionell übernimmt der Herrscher, der Chef, der «nährende» Vater oder ein Ehrengast bei Tisch den Vorsitz. Viel zu selten sitzt eine Frau der Gemeinschaft vor.

Oder braucht es vielleicht gar keine Hierarchie bei Tisch? Die Demokratisierung der Gesellschaft sollte sich auch beim Mahl manifestieren. Eine Gemeinschaft ist als solche interessant, innovativ und friedlich, wenn alle Mitglieder gleichwertig sind. Jede Meinung mag gehört werden. Viele Hausarbeiten rund um ein Essen wollen idealerweise von allen TischgenossInnen gemeinsam erledigt werden. Ein erster Schritt in Richtung einer idealen, also hierarchiebefreiten Tischgemeinschaft passierte bereits am Ende des 19. Jahrhunderts. Damals führte der russische Botschafter in Paris, Fürst Alexander Borissowitsch Kurakin, eine neue Art des Service, den sogenannten «Service à la russe», ein.

Die einzelnen Gerichte wurden nicht mehr gleichzeitig, sondern nacheinander serviert und kamen daher heiss, frisch und für alle von gleicher Qualität aus der Küche. Ab diesem Zeitpunkt bekam jeder Gast ein absolut gleichwertiges Gericht. Beim davor üblichen «Service à la française» waren die Speisen als eine Art Buffet in der Mitte des Tischs eingestellt worden. Die Gastgeber entschieden, wer wann welche Speise und wie viel davon erhalten durfte. Diese Machtdemonstration beendete der Diplomat Kurakin. Er mag uns ein Vorbild sein, denn auf dem Weg zu idealen Tischgemeinschaften gibt es noch einiges zu tun.


© Honey & Bunny | Ulrike Köb | Daisuke Akita

Honey & Bunny
Sonja Stummerer und Martin Hablesreiter studierten Architektur. Während eines Arbeitsaufenthalts in Tokio begannen sie, sich für Food Design zu interessieren, seither gestalten und kuratieren sie Ausstellungen und Filme, realisieren Eat-Art-Performances und schreiben bzw. illustrieren Bücher.

Erschienen in
Falstaff Nr. 09/2021

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Sonja Stummerer
Martin Hablesreiter
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