Bordeaux En Primeur: Tag 2 (Freitag)

Ulrich Sautter bei Château Ausone, Graf Neipperg und Château Tertre Rôtebœuf und Peter Moser bei Château Lafleur.

Freitag, der 1. April, soll ein sonniger Tag werden im Großraum Bordeaux, und als ich im Morgendämmern losfahre, sieht es tatsächlich so aus, als würden die Meteorologen Recht behalten. Im unvermeidlichen Stop-and-Go auf den innerstädtischen Boulevards gerate ich beim Zappen durch die Radiostationen an einen Werbeblock der Supermarktkette Auchan: Sie preist den Haut-Médoc Château Bernadotte an, Jahrgang 2011, und das für schlappe 6,99 Euro. Im Fachhandel kostet dieser Wein um die 15 Euro. Das Gut liegt ein paar hundert Meter außerhalb der AOC Pauillac. Es gehörte rund zehn Jahre lang zu Pichon Comtesse, ehe es gemeinsam mit dem Deuxième Cru Classé in den Besitz von Champagne Roederer gelangte. Roederer wiederum veräußerte Bernadotte 2012 an eine Handelsgruppe aus Hong Kong.

Mein Tag beginnt wenig später auf Château Ausone, und ein Mitarbeiter des Guts flämmt gerade die letzten Reste Unkraut aus dem Kies, als ich meinem Leihwagen entsteige. Pauline Vauthier hat die ganze Reihe ihrer Weine aufgestellt: Simard, Fonbel, Haut Simard, Moulin-St-Georges, das 2014 erworbene La Clotte, und schließlich La Chapelle d’Ausone und Ausone. Schon bei der Verkostung von Moulin-St-Georges muss ich stark auf die Euphoriebremse treten, schließlich sind dies die ersten Weine vom rechten Ufer, die ich probiere. Bei Ausone allerdings gibt es kein Wenn und Aber: Das ist ein großer Ausone – er erscheint mir sogar auf eindeutigere Weise groß als die zweifellos ebenfalls sehr guten Weine gestern am linken Ufer.

Neuer Verkostungstisch auf Vieux Château Certan / © Ulrich SautterNeuer Verkostungstisch auf Vieux Château Certan / © Ulrich Sautter

Vom Hügel des Ausonius rolle ich langsam herab, um dann nach Pomerol zu fahren: Auf Château Nenin berichtet Corinne Delon davon, dass die Ende der neunziger Jahre nach der Übernahme des Guts neu gepflanzten Reben jetzt langsam in ein interessantes Alter kämen. In der Tat scheinen mir die Weine in den vergangenen zwei, drei Jahren deutlich zugelegt zu haben. Nun, wenn die Inhaber von Léoville-las-Cases so ein Gut kaufen, wird das sicher kein Zufall sein. Weiter geht es zu Denis Durantou und L’Eglise Clinet, wo sich bei der Verkostung der kleineren Weine aus Lalande-de-Pomerol und Castillon mein Eindruck bekräftigt, dass es in 2015 wahre Perlen für vergleichsweise wenig Geld geben wird. Noch eine Güteklasse über dem Eglise Clinet sehe ich dann aber den nächsten Wein des Tages: denjenigen von Vieux Château Certan. Guillaume Thienpont, der Juniorchef der Domaine, präsentiert das Muster auf einem neuen Holztisch im Chai – was praktisch ist, weil man hier früher den Laptop immer brückenartig (und kippelig) zwischen zwei Barriques klemmen musste, um schreiben zu können. Vater Alexandre kommt schließlich ebenfalls zur Verkostung – aber nicht, um zu probieren. Er hat etwas zu besprechen mit seinem Sohn. Auf einem viereckig zugeschnittenen Stück Karton hat er Zahlen notiert. Wie sich herausstellt, handelt es sich um eine Aufstellung darüber, wie viele Stöcke im vergangenen Jahr ausgefallen sind und jetzt in der Rebschule zur Nachpflanzung bestellt werden müssen: nämlich elf Stöcke Cabernet Sauvignon, 97 Stöcke Cabernet franc und 316 Stöcke Merlot. Bei insgesamt 80.000 Reben in ihrem Weinberg sei das eine recht kleine Rate: aufgerundet 0,6 Prozent. Dass sich die Reben in den Händen der Thienponts wohl fühlen, zeigt auch der 15er: ein Wein von kristallin frischer Frucht und einem unwiderstehlichen Charme am Gaumen.

Verkostung bei Stephan Graf Neipperg / © Ulrich SautterVerkostung bei Stephan Graf Neipperg / © Ulrich Sautter

Über Trottevielle geht es zu Pavie Macquin und zu Nicolas Thienpont. Inzwischen ist es so warm geworden, dass ich nach einem Parkplatz im Schatten Ausschau halte. Auch den Rest des Nachmittags pendle ich zwischen Saint-Émilion und Pomerol, wobei mich das 15er Muster von Château Figeac etwas ratlos zurücklässt, weil es kaum als Cabernet-betonter Wein und damit als Figeac erkennbar ist. Was Thierry Manoncourt wohl dazu sagen würde? Bei Stephan Graf Neipperg begeistert mich, dass seine Weine durch die Bank mit vergleichsweise moderaten Alkoholgehalten auftreten – ein Effekt des Bioanbaus, so ist Neipperg überzeugt. Selbst auf d’Aiguilhe, dem Castillon im Portfolio, werden jetzt bereits 15 Hektar und damit rund ein Achtel der Gesamtfläche nach Öko-Standard bewirtschaftet. Auch auf La Conseillante haben inzwischen Öko-Ideen Einzug gehalten, wie die mit Leguminosen bepflanzten Rebzeilen vor dem Betriebsgebäude bezeugen. Mit ihren tiefen Wurzeln wirken die Pflanzen der Bodenverdichtung entgegen, außerdem lassen sie sich im passenden Moment als Nährstoffreserve unterpflügen.

Auch heute habe ich mir für den frühen Abend ein Schmankerl aufgehoben: den Besuch bei François Mitjavile auf Château Tertre Rôtebœuf. Als ich den Keller betrete, platze ich mitten in die Aufnahmen zu einem Video-Blog: Mitjaviles englischer Importeur Adam Brett-Smith von Corney&Barrow in London stellt Mitjavile bohrende Fragen zum Primeur-System.

Mitjavile (r.) im Interview über das Primeur-System / © Ulrich SautterMitjavile (r.) im Interview über das Primeur-System / © Ulrich Sautter

Später, bei der Verkostung seines hedonistischen Roc de Cambes und des gleichermaßen fülligen wie sublimen Tertre Rôtebœuf, schlägt Mitjavile wie so oft philosophische Töne an: Um zu solchen Weinen zu gelangen – oder auch, beispielsweise, um mittels Viehzucht und Metzgerhandwerk zur Entwicklung eines guten Saucisson zu kommen – dafür habe die Menschheit rund 10.000 Jahre benötigt. Dass es solch kulturell hochstehenden Produkte gebe, nehme ihn, trotz allem, was man vielleicht einwenden könne, sehr für das Abenteuer Menschheit ein. Er gehöre daher überhaupt nicht zu den Kulturpessimisten. Und dann scheint Mitjavile die Jünger des Vin naturel in den Blick zu nehmen, wenn er anfügt: Wer zurück zur Natur wolle, der habe vielleicht auch einfach nur Angst davor, dass bereits erreichte Kultur verloren gehen könne. Aber das sei doch der falsche Weg, man müsse für den Erhalt der kulturellen Errungenschaften kämpfen. Nach einem herzlichen Händedruck steige ich nachdenklich in meinen Wagen und greife nach der Flasche Vitel auf dem Beifahrersitz.

Ulrich Sautters ausführliche Jahrgangsanalysen finden Sie ab Ende April/Anfang Mai auf www.weinverstand.de.

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Peter Mosers Eindrücke von Tag 2

Am Freitag, den 1. April muss man vorsichtig sein. Da kursieren auch in Bordeaux feine, aber doch unglaubliche Geschichten, die sich dann im Netz rasch verbreiten. Wenn René Gabriel postet, Château Latour würde neuerdings den Grand Vin nach dem Prinzip, wer zuerst kommt, malt zuerst, um € 100,- verkaufen, ist gewisser Anlass zu Skepsis gegeben.

Am Nachmittag bin nun am Flughafen Merignac eingetroffen, um den Kollegen Sautter bei der Wahrheitsfindung in Sachen Jahrgang 2015 nach Kräften zu unterstützen. Und nachdem ich mich mit dem Leihwagen durch den heftigen Freitagsverkehr bis St. Emilion durchgekämpft hatte, wo ich auf Château Bellefon-Belcier für die nächsten Tage mein Hauptquartier aufgeschlagen hatte, fuhr ich nach Pomerol hinüber, wo ich einen frühabendlichen Verkostungstermin auf Château Lafleur vereinbart hatte. Warum nicht gleich vernünftig anfangen, und richtige gute Weine probieren, das war mein Ansatz.

Zuerst musste ich ein paar Minuten warten, bis eine Gruppe mit chinesischen VIP-Gästen den kleinen Keller räumte, um dann ganz entspannt mit Baptiste Ginaudeaud die Serie zu probieren. Die Weine des elterlichen Bordeaux AC Grand Village zeigten sich splendid, der preiswerte Bio-Rotwein hat heuer ein noch nie dagewesenes Niveau erreicht, auch der Weißwein, ein Sauvignon Blanc mit einem Schuss Semillion zeigte sich erstaunlich frisch, was Rückschlüsse auf das Potenzial von Weißweinen am rechten Ufer zulässt, wenn man das Terroir sorgfältig wählt. (Der dritte Jahrgang des von Semillion bestimmten Les Champs Libres zeigte dies später eindrücklich.). Der feine Fronsac »L’Acte 7 de G« hat sich in diesem Jahrgang von einem rustikal-maskulinen Roten in einen finessenreichen, vom kalkreichen Terroir geprägten Spitzenwein gewandelt, hier ist man stilistisch auf einem guten Weg. Dann der Pensées, gewiss alles andere als ein Zweitwein, ein Wein der bereits große Vorfreude auf weitere tolle Pomerol-Weine vermittelt, wirkt stoffig und strukturiert, mit feinen Dörrobstnuancen im Abgang und mineralischen Finis. Der Grand Vin von Lafleur ist ein Klasse für sich, kann nur mit »outstanding« bezeichnet werden. Delikat von Scheitel bis Sohle, fest im Kern, mit ungemeiner Länge ausgestattet. »Wer soll diesen Wein noch biegen«, denke ich mir, als ich beschwingt Richtung Abendessen abfahre, den Gaumen noch erfüllt vom Aroma des Lafleurs – ich hatte mit dem Winzer noch ein Gläschen von feinen 2008er zum Abschied getrunken, ja getrunken. Verkostet wird dann morgen.

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