Vielvölkerstaat Al Andaluz: In Andalusien lebten über viele Jahrhunderte Araber, Berber, Juden, Iberer und Nachkommen der Römer friedlich Seite an Seite, kultivierten ihre kulinarischen Traditionen und verschmolzen diese miteinander.

Vielvölkerstaat Al Andaluz: In Andalusien lebten über viele Jahrhunderte Araber, Berber, Juden, Iberer und Nachkommen der Römer friedlich Seite an Seite, kultivierten ihre kulinarischen Traditionen und verschmolzen diese miteinander.
© Honey & Bunny | Ulrike Köb | Daisuke Akita

Honey & Bunny: Multikulti kulinarisch

Nahezu acht Jahrhunderte lang regierten arabische Eroberer die südlichste Provinz Spaniens. Unter ihnen entwickelte sich Andalusien zu einem multikulturellen Musterland und einem kulinarischen Paradies, dessen Erbe bis heute in unseren Küchen nachwirkt.

Andalusien ist ein Paradies! Hier treffen vollendete Architektur und Kulinarik aufeinander. So verführerisch, so raffiniert und so vielfältig, wie in Spaniens südlichster Provinz, kommt der Speiseplan kaum wo sonst daher. Zitrusfrüchte, Zucker, exotische Gewürze oder Reis werden gemeinsam mit feinsten Fisch- und Fleischwaren nach arabischen, nordafrikanischen, jüdischen und europäischen Rezepturen verkocht. Multikulti Royal – das kann was!

Multikulti-Musterregion

Seit mehr als tausend Jahren treffen in Andalusien Zutaten und Rezepturen aus verschiedensten Regionen und Kulturen aufeinander. Das ist kein Wunder, denn das legendäre Reich »Al Andaluz« war einst der wissenschaftliche, philosophische und kulturelle Hotspot Europas. Knapp 800 Jahre lang wurden in den glanzvollen Städten Córdoba und Granada Wissenschaft, Kunst und Lebenskultur als Ideale betrachtet. Die besten Denker, Künstler oder Ärzte wurden in Al Andaluz willkommen geheißen und gefördert. Intellektualität und Forschung wurden verehrt. Kein Wunder, dass einige der größten Denker der damaligen Zeit hier lebten und arbeiteten. Herausragende Persönlichkeiten wie der Philosoph Ibn Rushd und der Arzt Abu al-Cassis al-Zahri beeinflussten die spätere europäische Entwicklung enorm.

Während in Mitteleuropa noch Ritter regierten und, wenn überhaupt, nur in den Klöstern die Wirkweisen von Lebensmitteln und Kräutern erkundet wurden, gab es in Andalusien bereits eine kulinarische Hochkultur und eine damit verbundene Gesundheitsvorsorge.
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Während in Mitteleuropa noch Ritter regierten und, wenn überhaupt, nur in den Klöstern die Wirkweisen von Lebensmitteln und Kräutern erkundet wurden, gab es in Andalusien bereits eine kulinarische Hochkultur und eine damit verbundene Gesundheitsvorsorge.

Während unter südlicher Sonne die Hochkultur immer neue Blüten trieb, droschen in Zentraleuropa Ritter in Blechkostümen im Blutrausch aufeinander ein – in Anbetracht der gegenwärtigen Wissenschafts- und Kunstfeindlichkeit im deutschsprachigen Raum, scheinen wir uns seither auch nicht wirklich weiter entwickelt zu haben. Auch die kulinarische Phantasie auf Burgen und in Klöstern war bescheiden im Vergleich zu jenen Gerichten, die in den Palästen von Córdoba und Granada serviert wurden: Große Fleischportionen statt Raffinesse und Poesie, kleingeistige Abschottung statt internationaler Einflüsse.

Aber was war dieses Al Andaluz überhaupt? Im Jahr 711 nach Christus eroberte Tariq Ibn Ziyad im Auftrag des Kalifen Al Walid I. von Damaskus den südlichsten Teil Spaniens. Al Andaluz wurde eine arabische Provinz, die bis zur vollständigen katholischen Rückeroberung im Jahr 1492 mehr oder weniger große Gebiete der iberischen Halbinsel einschließen sollte. Das 750 entstandene Emirat von Córdoba gilt neben Byzanz als die erste mittelalterliche Hochkultur Europas. Die künstlerischen, wissenschaftlichen und kulinarischen Leistungen waren enorm und vermutlich auf die kulturell sehr diverse Gesellschaft zurückzuführen. Multikulti ließ hier die fortschrittlichste Region ihrer Zeit entstehen.

Das Ende vom Lied: Mit der Rückeroberung von Granada durch katholische Truppen im Jahr 1492 endete das »Experiment
Al Andaluz«.
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Das Ende vom Lied: Mit der Rückeroberung von Granada durch katholische Truppen im Jahr 1492 endete das »Experiment Al Andaluz«.

Antike Gesundheitslehre

Araber aus Syrien und dem Jemen lebten hier mit Berbern, Juden, ehemaligen Römern und Nachfahren der Keltiberer, der ursprünglichen Bevölkerung Spaniens, auf verhältnismäßig engem Gebiet friedlich zusammen. Für die Ausübung aller Religionen galt ein Toleranzedikt. Jede Kultur brachte ihre eigenen Zutaten, Rezepturen und Traditionen in den Alltag ein. Dabei ging es in Andalusiens Küchen nicht nur um Genuss, sondern auch um Gesundheit. Gekocht wurde vor allem nach der arabisch-scholastischen Gesundheitslehre aus Damaskus. Diese beruft sich auf das Gesundheitsbuch »Tacuinum sanitatis«, das im 11. Jahrhundert vom christlichen Arzt Ibn Butlan in Bagdad verfasst wurde. Das Werk basiert auf den Konzepten der antiken Ärzte Hippokrates und Galen und kann als Vier-Säfte-Lehre zusammengefasst werden. Die Mediziner glaubten, dass die Harmonie dieser vier Körpersäfte für Gesundheit sorgt und dass diese Harmonie mit ausgewogenem Essen herbeizuführen sei. Daraus entstand eine Art erster Ernährungsratgeber.

Der Arzt Ibn Butlan sorgte in Damaskus auch dafür, dass die griechischen und lateinischen Gesundheits- und Ernährungslehrbücher nicht in Vergessenheit gerieten. Seine Übersetzungen und Bearbeitungen der Werke von Hippokrates und Galen gelangten über Al Andaluz ins christliche Europa und diente dort (viel später) als wichtige Grundlage für die medizinische Entwicklung. Als spätmittelalterliche Literaturgattung »Regimina Sanitatis« beschrieben sie die gesundheitlichen Wirkungen von Nahrungsmitteln. Und sie sollten unseren Speiseplan bis heute beeinflussen – denn unser Wissen, dass Honig gut mit Nüssen harmoniert oder Schweinebraten und Knoblauch zusammenpassen, stammt aus diesen Büchern. Auch kommt die Idee, Schweinefleisch zu braten und mit Senf zu essen, aus der Vier-Säfte-Lehre. Oder der Ratschlag, Käse mit Honig und Nüssen oder süße Milch mit Rosinen zu verzehren … Unser Grieskoch mit getrockneten Weintrauben ist also nach uralten arabischen Vorstellungen gesund und ein recht anschauliches Beispiel für jahrtausendealte Multikulti-Küche. Antike griechische und römische Ideen zur kulinarischen Gesundheitsvorsorge fanden über Bagdad und den Umweg über Andalusien also irgendwann Eingang in die klassische österreichische Küchenkultur – das nennt man kulturelle Diversität!

Im Jahr 1492 setzten Isabella von Kastilien und Ferdinand von Aragon dem fortschrittlichen Treiben in Südspanien allerdings ein Ende. Mit ihrer Eroberung von Granada war schließlich ganz Spanien wieder katholisch. Jüdinnen und Juden wurden in der Folge erstmals in der Geschichte gewaltsam vertrieben (diese sephardische Gruppe sollte später im nach wie vor toleranten Byzanz das Schnitzel erfinden). Und Muslime wurden entweder zur Taufe gezwungen oder gewaltsam ins Paradies befördert. Doch wie immer in der Kulturgeschichte, konnten den kulinarischen Traditionen und Entwicklungen kaum Grenzen gesetzt werden. Beim Essen scheitern sogar Diktatoren.


 

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Honey & Bunny

Sonja Stummerer und Martin Hablesreiter studierten Architektur. Während eines Arbeitsaufenthalts in Tokio begannen sie sich für Food-Design zu interessieren, seither gestalten und kuratieren sie Ausstellungen und Filme, realisieren »Eat-Art-Performances« und schreiben bzw. illustrieren Bücher.

Erschienen in
Falstaff Nr. 02/2023

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