Mandarinen bestechen durch ihren unvergleichlichen Geschmack und ihre kräftige Farbe. Sie erinnern an die orangefarbene Amtstracht kaiserlicher Beamter im alten China – die Mandarine.

Mandarinen bestechen durch ihren unvergleichlichen Geschmack und ihre kräftige Farbe. Sie erinnern an die orangefarbene Amtstracht kaiserlicher Beamter im alten China – die Mandarine.
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Mandarinen-Mysterium: Warum die Früchte nicht mehr verkauft werden

Die Mandarine wurde nach und nach von »pflegeleichteren« Zitrusfrüchten wie Clementinen und Satsumas verdrängt, obwohl sie diesen geschmacklich weit überlegen ist. Das stößt vielen Genießern sauer auf. Denn die Früchte werden nach wie vor angebaut – nur eben nicht mehr genügend nachgefragt. Das ließe sich freilich ändern …

Das Bessere ist der Feind des Guten, so lautet einer der wichtigsten Merksätze des angewandten Kapitalismus. Und das hat natürlich schon seine Richtigkeit – theoretisch. Doch in der Praxis liegt es primär an der Definition von »gut« bzw. »besser«, wenn es darum geht, zu entscheiden, welche von mehreren Varianten nun tatsächlich die Nase vorne hat. Und weil die Logik der Märkte im Zweifel so gut wie immer Produktivität und erzielbaren Gewinn als wichtigste aller Erfolgsfaktoren definiert, fallen Produkte, die in dieser Kalkulation nicht vorne liegen, gnadenlos durch den kaufmännischen Rost. Ein Paradebeispiel für diese gängige Praxis ist die Mandarine: Noch vor einer Generation Stammgast in jeder Obstschale und in jedem Krampussackerl, wurde die Zitrusfrucht binnen weniger Jahre von Clementinen und Satsumas aus nahezu allen Obstabteilungen verdrängt. Und viele Kinder und Jugendliche wissen heute nicht einmal mehr, wie anders und unvergleichlich besser echte Mandarinen schmecken können. Dabei ist es nicht einmal so, dass sie nicht mehr angepflanzt würden – nur den Weg zum Endverbraucher schaffen die Früchte so gut wie nicht mehr. Dabei gehören sie mit zu den vielfältigsten und geschmacksintensivsten aller Zitrusfrüchte.

Seit Jahrtausenden beliebt

Seit mindestens 4000 Jahren werden Mandarinen in jenem Gebiet, wo heute der Norden Indiens und der Südwesten Chinas aufeinanderstoßen, angebaut. Das erste schriftliche Zeugnis ihrer Existenz stammt aus dem zwölften Jahrhundert vor Christus und im Lauf der Jahrhunderte breitete sich die Pflanze über ganz Südostasien und bis nach Japan aus. Tatsächlich ist die Mandarine, deren Name wahrscheinlich von den Mandarinen stammt, hohen Beamten im kaiserlichen China, die als Zeichen ihrer Würde eine orangefarbene Amtstracht trugen, eine von nur drei Urformen von Zitruspflanzen, aus denen sich alle weiteren herausgebildet haben bzw. aus denen sie gezüchtet worden sind (die anderen beiden sind die Pampelmuse und die Zitronatzitrone). So ist etwa die Orange, heute die mit Abstand wichtigste und am weitesten verbreitete Zitrusfrucht weltweit, eine »Tochter« aus einer Kreuzung von Mandarine und Pampelmuse.

Nach Europa gelangte die Frucht überraschenderweise dennoch relativ spät. Erst im Jahr 1805 und damit mehrere Jahrhunderte nach der Orange sind belegtermaßen die ersten Früchte von einem gewissen Sir Abraham Hume aus dem chinesischen Kanton nach England verschifft worden. In der Folge breitete sich die Pflanze allerdings rasch im gesamten Mittelmeerraum und in Nordafrika aus. Heute gehören neben China, Japan und Südkorea die Länder Spanien, Italien, Marokko, Ägypten und die Türkei zu den größten Anbaunationen.

Aromatischer Geschmack

Viele Experten bescheinigen Mandarinen eine besonders große Geschmacksbreite. Da finden sich einerseits frische, säuerliche Zitrustöne, andererseits eine angenehme, nicht zu aufdringliche Süße – und eben ein ganz typischer, einzigartiger »Mandarinengeschmack«, der zwar synthetisch nachgeahmt werden kann, aber den keine andere Frucht auch nur im Ansatz bietet. Oft werden auch Kräuternoten im Duft und im Geschmack von Mandarinen identifiziert. Nicht von ungefähr werden Mandarinenaromen deshalb auch gerne von Parfümeuren genutzt, um Duftwässern eine eigene Note zu verleihen.

Doch wo viel Licht, da auch mancher Schatten – und der besteht hier primär aus einer Vielzahl von Kernen im Fruchtfleisch, die den Genuss von Mandarinen tatsächlich zu einer recht mühsamen Angelegenheit machen können. Und – fast noch schlimmer: Mandarinen haben eine sehr dünne Schale, weshalb sie einerseits beim Transport leichter beschädigt werden (und so rascher verfaulen) und andererseits schneller austrocknen. Während die dickerschaligen Clementinen und Satsumas nach dem Kauf ungekühlt gute zwei Wochen lang genießbar bleiben, verlieren Mandarinen schon nach fünf bis sechs Tagen Geschmack und Feuchtigkeit.

Für die Mehrzahl der heimischen Konsumenten sind diese Vorteile so überwiegend, dass sie gerne auf den ungleich aromatischeren Geschmack der Mandarine verzichten. Denn die nahezu kernlosen und dickhäutigen Clementinen und Satsumas sind vor allem süß – und sonst nicht viel. Trotzdem liegen sie in der Publikumsgunst inzwischen weit vor ihrer genetischen »Mutter«. »Es kommt schon gelegentlich vor, dass Kunden nach echten Mandarinen fragen«, erzählt etwa »Spar«-Sprecherin Nicole Berkmann. »Aber eigentlich ist das kein großes Thema.«

Weshalb Mandarinen zwar noch immer angebaut werden, aber längst nicht mehr in dem Umfang von früher. Und: Die meisten Früchte werden heute nach der Ernte verarbeitet, entweder zu Dosenfrüchten, zu Saft oder zu Likör. Nur geringe Mengen gelangen noch auf Spezialitätenmärkten, im Supermarkt gibt es sie mangels Lieferkapazität so gut wie überhaupt nicht mehr. Es fehlt schlicht die Nachfrage. Zumindest das könnte man ändern – würden wieder öfter Kunden nach »echten« Mandarinen fragen, könnte auch wieder mehr importiert werden.


Mandarinenstammbaum

Die wichtigsten Vertreter der Familie im Überblick.

Mandarinen

Werden im Nordosten Indiens und im Südwesten Chinas seit vielen Tausend Jahren kultiviert. Die erste gesicherte Erwähnung stammt aus der Zeit um 1200 v. Chr. Von dort breiteten sie sich über ganz Südostasien aus. Nach Europa kamen die ersten Mandarinen im Jahr 1805 durch Sir Abraham Hume, worauf sie sich auch im Mittelmeerraum und in Nordafrika verbreiteten. Früchte aus diesem Anbaugebiet werden als mediterrane Mandarinen bezeichnet.

Orangen

Stammen ebenfalls aus China und sind eine Kreuzung aus Mandarine und Pampelmuse (Pomelos sind übrigens auch eine Pampelmusenart). Durch dieselbe Kreuzung ist auch die Bitterorange entstanden. Während Letztere allerdings bereits im elften Jahrhundert über die Seidenstraße nach Italien gelangte, dauerte es bis ins 15. Jahrhundert, bis auch die (süße) Orange nach Europa kam. Hier wurde sie zunächst fast ausschließlich in Portugal gezogen. Heute ist sie die am häufigsten angebaute Zitrusfrucht.

Grapefruit

Ist aus einer Kreuzung aus (süßer) Orange und Pampelmuse entstanden. Durch ihren ausgeprägt bitteren Geschmack hebt sie sich von den meisten anderen Zitrusfrüchten ab.

Clementinen

Sind aus einer zufälligen Kreuzung aus mediterraner Mandarine und Orange entstanden. Im Gegensatz zu Mandarinen haben sie so gut wie keine Kerne, eine deutlich dickere Schale (was die Haltbarkeit verlängert), sie lassen sich leichter schälen und sind süßer. Clementinen sind nach dem Trappistenmönch frère Clément benannt, der sie als erster wissenschaftlich beschrieben hat. In Mitteleuropa haben sie die Mandarine in den Supermärkten nahezu gänzlich abgelöst.

Satsumas

Stammen aus Japan und sind durch die Kreuzung verschiedener Mandarinenarten entstanden. Wie die Clementinen sind auch sie kernlos, dickschalig, leicht zu schälen und besonders süß. In Japan ist die Satsuma die wichtigste angebaute Zitrusfrucht.


Erschienen in
Falstaff Nr. 09/2022

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Martin Kubesch
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