Essay: La Vita è bella – auch in Krisenzeiten

Falstaff-Autor Joachim Riedl über das Konzept »Eataly«, das ausgerechnet im krisengeschüttelten Italien großen Erfolg hat.

Die Italiener müssen etwas richtig machen. Das Land steckt bis zum Hals in einer Dauerkrise, die Industrieproduktion schrumpft, ein Wirtschaftsaufschwung ist weit und breit nicht in Sicht, die Arbeitslosigkeit steigt speziell unter Jugendlichen schwindelerregend an, und in den Städten verrottet die Infrastruktur, weil der öffentlichen Hand an allen Ecken und Enden das Geld fehlt. Kurz: das Land, wo die Zitronen blühen, befindet sich in einem miserablen Zustand. Doch trotz dieser Malaise findet in Italien ein wundersamer Wandel statt, der paradox anmutet. Die Menschen besinnen sich auf eine beinahe fröhliche Weise ihrer traditionellen, angestammten Lebensweise.

Je mehr das Land an industrieller Kraft und wirtschaftlichem Elan einbüßt, desto entschlossener scheint Italien wieder zu dem werden zu wollen, was es einmal vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges gewesen ist: eine agrarische Nation.

Die Lega di Cultura der Bassa padana, eine Volkskundevereinigung in der landwirtschaftlichen Herzregion der Poebene, beob­achtet beispielsweise, dass neuerdings viele junge Leute den Städten den Rücken kehren und auf die kleinen Höfe zurückkehren, die ihre ­Großeltern einst verlassen hatten, um am wirtschaftlichen Aufschwung teilzuhaben. Dort widmen sich die Rückkehrer nun auf wenigen Hektar Anbaufläche althergebrachten Produktionsmethoden aus der Zeit vor der Agrarindustrie, wodurch eine breit gefächerte Palette hoch spezialisierter und regional unterschiedlicher Nahrungsmittel wiederbelebt wird. Anscheinend befördern die Katastrophenbotschaften, die auf die Leute einprasseln, diese Rückbesinnung auf eine unverfälschte Lebensart. Mitten in turbulenten Boom-Jahren purer Luxus, zu Zeiten der Krise hingegen eine genuss­betonte Überlebensstrategie.

Die Italiener bestätigen damit unbewusst eine Regel, die zu einem erstaunlichen
Effekt führt. Jedes Mal, wenn eine Gesellschaft in ökonomische Schieflage gerät, ­suchen die Menschen nach Wegen, die sie über die Tristesse hinwegtrösten. Der internationale Beratungsmulti Bain & Company formulierte es unlängst in einer Studie sehr plakativ: Gerade in einer Krise erlebe Luxus einen kleinen Boom, da sich immer mehr Menschen etwas gönnen, das sie als wertvoll empfinden, weil sie einfach die Nase voll von all den schlechten Nachrichten haben. In diesem Reflex mischt sich ein ganzes Bündel an Motiven: Eskapismus, also der Wunsch, der Malaise zu entfliehen; die Sehnsucht nach Belohnung, weil man tapfer durchgehalten hat; die Kalkulation, dass Investitionen in die eigene Person vernünftiger sind als in das stotternde Wirtschaftssystem.

Genuss als Antidepressivum
»Wenn wir ein Produkt kaufen, aktiviert der Preis das Schmerzareal im Gehirn«, erklärt der deutsche Neuropsychologe Christian Scheier, der unbewusste Kaufentscheidungen erforscht: »Bei Luxus steht der Preis aber nicht nur für Schmerz, sondern auch für Qualität und Nachhaltigkeit. Das belohnt.« Das Unbewusste registriere eine Wohltat: Man tut sich etwas Gutes, handelt also rational, selbst um den Preis verrückter Kosten, die man bei nüchterner Rechnung unbedingt meiden würde.

Es ist das Unbewusste, das luxuriöse Produkte begehrenswert erscheinen lässt. Sie ­erlauben es, durch den genussvoll empfunde­nen Konsum dem grimmigen Alltag für einen Augenblick zu entkommen. Wobei sich dieser Luxus weniger auf kostspielige Statussymbole bezieht, die ja vor allem dazu dienen, die gesellschaftliche Hackordnung auszu­schildern, also der Sphäre des sozialdarwinistischen Überlebenskampfes angehören, aus welcher der neue, stille Luxus hinausführen will. Das können Reisen sein oder die sorg­fältige und liebevolle Ausgestaltung der ­unmittelbaren Lebensumwelt, und vor allem die Ernährung zählt dazu. Nirgendwo wird Genuss so unmittelbar empfunden wie bei ­Essen und Trinken, nichts sublimiert trübe Laune effektiver.

Und Genuss, das hat sich mittlerweile auch im Stammland der preußischen Tugend her­umgesprochen, ist ein wichtiger Treibstoff für eine psychisch ausgeglichene Lebensführung. Das macht ihn in der Krise zum idealen Antidepressivum. Eine Meinungsumfrage in Deutschland ermittelte vor einigen Jahren, dass 89 Prozent der Deutschen meinen, ­Genuss sollte im Leben eines Menschen eine wichtige Rolle spielen. Die wichtigste Rahmenbedingung dazu, sagten 52 Prozent der Befragten, sei Zeit: Nur in einem freien, selbstbestimmten Zeitfenster könne sich echter Genuss einstellen. Das gelingt immerhin 71 Prozent fast täglich, auch wenn drei von vier der Befragten meinten, die meisten Leute könnten gar nicht genießen, wenn es ihnen eigentlich gut geht. Möglich, dass ­Genuss eine Fähigkeit ist, die man besonders gut in einer Krise erlernen kann.

Das Genusskaufhaus
Das scheint sich auch am Beispiel Italien zu bewahrheiten. Ausgerechnet einer der größten wirtschaftlichen Erfolge des Landes in den letzten Jahrzehnten hat ausschließlich mit Genuss zu tun. Kurz vor Ausbruch der Finanz­krise eröffnete Oscar Farinetti, ein enger ­Bekannter des Slow-Food-Begründers Carlo Petrini, in Turin sein erstes »Eataly«-Geschäft: einen Feinkost-Supermarkt, der ausschließlich handwerklich hergestellte Lebensmittel führt, so wie sie jetzt die jungen Stadtflüchtlinge produzieren. Das Unternehmen war von Anfang an ein riesiger Erfolg, es traf punktgenau den Nerv der Zeit. Heute hat »Eataly« mit seinem Konzept, krisengeplagten Menschen genussvolle Momente zu ­bieten, bereits nach Amerika und Japan ­expandiert. Für die größte Niederlassung wurde in Rom ein leer stehender Busbahnhof in ein vier Stockwerke hohes Genuss-Kaufhaus umgewandelt, in dem sich jeden Tag bis Mitternacht die Menschen drängen. Im nächs­ten Jahr plant das »Eataly«-Imperium, seine erste deutsche Filiale in München aufzusperren. Und in Bologna soll auf 8000 Quadratmetern gleich ein ganzer Alimentari-Themenpark für jährlich eine Million Besucher entstehen. Vergessen, es ist Krise?

Irgendetwas müssen die Italiener richtig machen. 

COVERFOTO
Produktion:
Florence Wibowo
Foto: Hilde van Mas / www.georgkhittl.com
Assistent: Axel Bach
Retusche: Alexandra Heindl
Models: Anna Kuen, Michael K., Michael U., Romana Ch./Wiener Models
Make-up und Haare: Alma M./perfect props, Sophie Kaspar mit Produkten von Kiehl’s
Styling: Florian Oppitz, Katarina Vehmas
Assistenz: Sabrina Zehetbauer
Set Styling: Christian Mannl
Location: Herzlichen Dank an Hotel Sacher/Restaurant Rote Bar
Outfits: Herzlichen Dank an Popp&Kretschmer, Frack & Co, Palmers und Humanic

Text von Joachim Riedl
Aus Falstaff Nr. 08/2014

Joachim Riedl