Kulinarisch aber auch ökologisch hat die Auster eine Sonderstellung unter den Muscheln: Jede Auster säubert Hunderte Liter Wasser pro Tag.

Kulinarisch aber auch ökologisch hat die Auster eine Sonderstellung unter den Muscheln: Jede Auster säubert Hunderte Liter Wasser pro Tag.
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Austern: Comeback der Supermuschel

New York war einst »Austern-Welthauptstadt«, Überfischung und Umweltverschmutzung ließen die Auster ausrotten. Dank findiger Ideen und engagierter Bürger ist sie nun zurückgekehrt.

Die Bucht des heutigen New Yorker Hafens war in früheren Tagen vor allem ein Paradies für Austern. Man könnte sogar sagen: New York war einmal die Welthauptstadt der Auster. Doch dann kam die Besiedelung, die Stadt wuchs, der Hafen wurde ausgebaut zu einem der größten der Welt und die Auster wurde verdrängt. Doch jetzt soll sie zurückkehren in die Wasser rund um die Millionenmetropole. Eine Initiative namens »Billion Oyster Project« treibt die Wiederansiedlung von Austernriffen voran, welche nicht nur die Wasserqualität verbessern, sondern auch die Küste vor Stürmen schützen sollen. Dass die wilden Austern überhaupt wieder gedeihen, ist ein Zeichen dafür, dass sich die Wasserqualität in einem der meistgenutzten Häfen der Welt sukzessive verbessert.

Als Henry Hudson im Jahr 1609 das heutige New York anlief, musste er sein Schiff durch 900 Quadratkilometer grosse Austernkolonien navigieren, ehe er an Land gehen konnte.
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Als Henry Hudson im Jahr 1609 das heutige New York anlief, musste er sein Schiff durch 900 Quadratkilometer grosse Austernkolonien navigieren, ehe er an Land gehen konnte.

Insel mit Geschichte

Nebel dick wie Erbsensuppe hüllt Downtown Manhattan ein. Es ist einer dieser Tage, an dem die Freiheitsstatue von der Bildfläche verschwunden zu sein scheint und die Brooklyn Bridge sich nur schemenhaft vom Wasser abhebt. Alle paar Minuten tuten die Nebelhörner der vorbeiziehenden Schiffe: tief, langgezogen, langsam.

Die »Coursen« ist eine jener Fähren, die vom Südzipfel Manhattans ablegt. Ihr Ziel ist Governors Island, eine 70 Hektar große Insel vis-à-vis der Freiheitsstatue – und eine kleine Welt für sich. Governors Island war einst ein Fischereiplatz der indigenen Ureinwohner, später Armee- und Marine-Stützpunkt. Heute ist sie ein beliebtes Freizeitareal. Tausende New Yorker kommen jedes Wochenende zum Radfahren oder picknicken – und seit einiger Zeit auch, um beim »Billion Oyster Project« freiwillig mit Hand anzulegen. Ein Projekt, bei dem hier bis zum Jahr 2035 eine Milliarde (= »One Billion«) Austern angesiedelt werden sollen

Hinter den historischen Offiziersgebäuden mit ihren alten Kanonen türmen sich Berge von Austernschalen. Diese stammen von den vielen Seafood-Restaurants in der City. Darin werden Austernlarven gezüchtet und anschließend im Hafenbecken ausgesetzt, um die Bestände aufzufrischen.

»Wir wollen die ursprüngliche Landschaft, wie sie einst im Hafen von New York zu finden war, wiederherstellen und den Leuten Nachhaltigkeit und Umweltschutz nahebringen«, erklärt Pete Malinowski, Direktor des »Billion Oyster Project«: »Denn riesige Austernriffe, die sich über Tausende von Jahren entwickelt haben, schützten einst die Küste von New York.« Auch wenn es heute kaum mehr vorstellbar scheint: »Man musste nicht weit ins flache Wasser gehen, um Austern wie reife Früchte zu pflücken«, schreibt Mark Kurlansky in seinem Buch »The Big Oyster: History on the Half Shell«. Ellis Island (wo früher die Immigranten registriert worden sind) und Liberty Island (wo heute die Freiheitsstatue steht) hießen in Kolonialzeiten noch »kleine und große Austerninsel«. 

Bis Anfang des 20. Jahrhunderts prägte das vor der Stadt geerntete Seafood als billiger Imbiss für alle auch das Strassenbild New Yorks.
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Bis Anfang des 20. Jahrhunderts prägte das vor der Stadt geerntete Seafood als billiger Imbiss für alle auch das Strassenbild New Yorks.

Gigantische Austernbänke

Im fruchtbaren Wasser-Mix aus Hudson River und Atlantik gab es immer schon gewaltige Austernbänke. Als Henry Hudson im Jahre 1609 hier ankam, navigierte er seinen Dreimaster durch 900 Quadratkilometer große Austernbänke – eine Fläche, mehr als doppelt so groß wie Wien. Der New Yorker Hafen war sehr lange Zeit eine der biologisch produktivsten, vielfältigsten und dynamischsten Unterwasserwelten an der Ostküste der USA. Es gab hier so viele Austern, dass man sogar eine Straße im Financial District an der Südspitze Manhattans danach benannte: die Pearl Street.

Diese heutige Spezialität war dabei seinerzeit längst nicht nur ein Essen für reiche Leute, sondern auch für die Armen. Straßenhändler grillten an jeder Ecke Austern, wo heute Hot Dogs angeboten werden. Und Millionen Stück wurden exportiert. Doch Anfang des 20. Jahrhunderts war Schluss mit dem Überfluss: Die Austern von New York waren aufgegessen. Der stetig wachsende Industriemüll, Abwässer und Krankheiten waren für deren Überleben ebenfalls nicht gerade förderlich. Manhattan wuchs in die Breite und in die Höhe. Sumpfig-steinige Ufer, die für Austern einst ein ideales Zuhause waren, mussten Schottwänden und Piers weichen.

Aber nicht nur in New York, weltweit sind die natürlichen Austernvorkommen vielerorts dramatisch geschrumpft. Dabei sind Austern so etwas wie die Ingenieure des Ökosystems. Eine durchschnittliche Auster filtert und reinigt über ihre Kiemen mindestens 200 Liter Wasser pro Tag, oft sind es noch mehr. Zum Vergleich: Eine Badewanne fasst etwa 150 bis 180 Liter. Sie sind damit die Nieren des Meeres, entfernen Gifte, Schadstoffe und Krankheitserreger. Das Wasser wird klarer, es fällt mehr Licht auf den Meeresboden.

Durch neue Gesetze zur Verbesserung der Wasserqualität ist das Hafenwasser in New York in den letzten Jahrzehnten sukzessive sauberer geworden. Zumindest so weit, dass gezüchtete Austern ausgesetzt werden und überleben können. Das ist der Grundstein für das »Billion Oyster Project«.

Tonnen von Muschelschalen aus New Yorker Restaurants lagern auf Governors Island. Während die Natur ihre Säuberung übernimmt, warten diese auf ihren Einsatz bei der Rekultivierung der Austernbänke vor New York.
© Katie Orlinsky for The Pew Charitable Trusts
Tonnen von Muschelschalen aus New Yorker Restaurants lagern auf Governors Island. Während die Natur ihre Säuberung übernimmt, warten diese auf ihren Einsatz bei der Rekultivierung der Austernbänke vor New York.

Gourmets als Verbündete

Die Schalen für die Babyaustern liefern, wie bereits gesagt, New Yorker Restaurants. »Vor der Pandemie haben wir von 80 Lokalen die Austernschalen bekommen, sechs Mal die Woche wurden sie abgeholt. Derzeit fährt unser Truck nur ein Mal pro Woche zu zwölf Restaurants«, so Projektleiter Malinowski. Aber auch wenn derzeit weniger Muschelschalen gesammelt werden, lagern auf Governors Island derzeit etwa 500 Tonnen. »Sie liegen zunächst ein Jahr lang hier und werden von Wind und Wetter gereinigt«, erklärt Malinowski. »Denn wir wollen ja keine Krankheitserreger auf unsere Jungtiere übertragen.«

Hier finden sich hauptsächlich Austernschalen von Tieren, die von der Ostküste stammen. Aber auch welche von der Westküste sowie Jakobsmuscheln und Venusmuscheln sind darunter. Schätzungen zufolge wurden vor Covid in New York pro Woche eine halbe Million Muscheln verzehrt. Und den Austernlarven ist es herzlich egal, welche Muschel ihr neues Zuhause ist. Sie brauchen nur eine passende Oberfläche, an der sie andocken können. Hauptsache, diese ist reich an Calciumcarbonat

Das 30-köpfige Team des »Billion Oyster Project« befruchtet im Labor zunächst Keimzellen in Wassertanks. Die dabei entstehenden Larven werden mit Algenkulturen versorgt und nach zwei bis drei Wochen in Tanks zu den Restaurant-Schalen gesetzt. Das »Andocken« gelingt in bis zu 40 Prozent der Fälle.

Seit dem Start des Projekts 2014 konnten so schon 50 Millionen Austern in kleinen Säcken oder schwimmenden Metallkäfigen im Hafen von New York ausgesetzt werden. Und die Wasserqualität hat sich dadurch offenbar bereits weiter verbessert. Denn vor Kurzem wurden große Vorkommen wilder Austern an Brückenpfeilern gefunden. Malinowski: »Wir haben Tausende von Austern pro Quadratmeter gezählt – gewaltig!«

Lebendiger Umweltschutz: Schätzungen zufolge haben die Austern seit dem Beginn des Projekts im Jahr 2014 bereits über 3000 Tonnen Stickstoff aus dem Wasser gefiltert.
Foto beigestellt
Lebendiger Umweltschutz: Schätzungen zufolge haben die Austern seit dem Beginn des Projekts im Jahr 2014 bereits über 3000 Tonnen Stickstoff aus dem Wasser gefiltert.

Natürliche Wellenbrecher

Aber können Austernriffe, wie erhofft, die gut 800 Kilometer Küstenlinie von New York tatsächlich vor künftigen Stürmen und Hurrikans schützen? »Die Riffe können die Wellen brechen, bevor sie auf Land treffen und so Schäden mindern«, so Malinowski. Das funktioniert aber vor allem an flachen Küstenstrichen wie etwa Jamaica Bay in Brooklyn. »Im unteren Teil von Manhattan ist das Wasser nicht flach genug. Man würde ein riesiges Austernriff benötigen, zwölf Meter von Grund auf«, erklärt Malinowski. Aber bei einem weiteren Projektabschnitt, der den Stadtteil Staten Island schützen soll, würden die gezüchteten Riffe bereits eine Rolle spielen.

Für Feinschmecker ist die Initiative aber jedenfalls eine Aufforderung, mehr Austern zu konsumieren – mit winzigen Abstrichen: »Wenn man in Austernfarmen gezüchtete Tiere verzehrt, belastet man damit nicht die Umwelt und tut seinem Körper Gutes«, erklärt Projektleiter Pete Malinowski. Die jungen, vor Manhattan neu gezüchteten Austern seien hingegen nicht essbar – das Wasser rund um die Millionenmetropole ist nach wie vor schlicht zu schmutzig, was die Austern ungenießbar mache. Es wird also wohl doch noch einige Zeit dauern, bis wieder fliegende Austernhändler die New Yorker Straßen bevölkern.


Delikatesse mit Öko-Bonus

Exquisit und Nachhaltig

Austern punkten nicht nur als Delikatesse, sondern auch als nachhaltige Proteinquelle mit Öko-Bonus – vor allem in Europa: Denn zum Unterschied von Nordamerika, wo noch immer etwa die Hälfte der Austern aus Wildfang stammt und Überfischung damit ein allgegenwärtiges Thema ist, stammen Austern in Europa fast ausschließlich aus Aquakulturen. Diese sind nicht nur umweltverträglich, sondern helfen sogar bei der Säuberung der sie umgebenden Gewässer. Die Austernzucht ist zudem, da sie fast ausschließlich in Handarbeit erledigt werden muss, auch nachhaltiger (und kostspieliger) als andere Formen von Sea-Farming. Nicht umsonst gibt es vom WWF punkto nachhaltigen Fisch- und Seafood-Kaufs nur drei vorbehaltlose Empfehlungen für Genuss mit gutem Gewissen: Karpfen, Wels – und eben Austern.


Erschienen in
Falstaff Nr. 04/2021

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Angelika Ahrens
Angelika Ahrens
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