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Oursinades: Das große Seeigel-Essen in Südfrankreich

In Südfrankreich, entlang der Côte Bleue bei Marseille, findet eines der außergewöhnlichsten Volks- und Gourmet-Feste statt: die Oursinades. Hier dreht sich alles um den Seeigel, der mehr ist als nur der lästige Meeresbewohner beim Baden.

Seit halb neun sei sie schon hier, sagt Rentnerin Marie-Laurence, angereist mit dem Bus aus einer Kleinstadt im Hinterland. »Es lohnt sich aber, früh hier zu sein. Die besten Stücke sind schnell weg!«. Die besten Stücke, das bezieht sich auf jene stacheligen Kreaturen, die viele Menschen lediglich als Ärgernis beim Baden an Felsküsten kennen. Seeigel. Denn darum geht es bei der (oder den) »Oursinades«, einem der größten Volks- und Gourmet-Feste an der Côte Bleue bei Marseille.

Seeigel für »einfache Leute«

Seeigel (auf Französisch »oursin«, deshalb die Oursinades) finden sich vermutlich seit Jahrtausenden auf dem Speiseplan des Menschen. In der japanischen Küche als »uni« hoch begehrt, sind kulinarischen Spuren der Seeigel rund um den Globus präsent. Ähnlich wie bei der Auster waren Seeigel, vor allem ihrer stacheligen Erscheinung und ihres geringen Ertrags wegen, dabei keinesfalls Luxusgüter. »Die einfachen Leute«, wusste James Wallace schon im Jahr 1688 von den Orkney-Inseln zu berichten, »schätzen das Fleisch der Seeigel und benutzen es oft anstelle von Butter.« Das »Fleisch«, das sind in Wirklichkeit die fünf gelblich-orangefarbenen Gonaden, die einzig essbaren Teile des Seeigels.

Während auf den Orkney-Inseln kaum noch Seeigel verspeist werden, begann der Kult in Frankreich eigentlich erst im 20. Jahrhundert. Es war im Jahr 1952, als Ortsbürgermeister Grimaldi, umgeben von Honoratioren und anderen Freunden, »die gern sonntags gratis Pastis trinken«, sein Gewicht in Seeigeln aufwiegen ließ. 95 Kilo der stacheligen Delikatesse holten die Fischer aus dem Meer, die Presse wurde eingeladen, und damit war das Bild unverrückbar in der Welt. Acht Jahre später beschloss Grimaldis Nachfolger Alfred Martin, noch einen Schritt weiter zu gehen und den »Tag des Seeigels« ins Leben zu rufen – der Startschuss für die Oursinades.

 

Die besten Stücke

Es geht inzwischen auf 10 Uhr vormittags zu. Die Holzbänke auf dem Platz am Hafen sind noch nicht sehr stark besetzt. Dafür strahlt die Sonne so hell vom Himmel, wie sie es nördlich der Alpen vor April nie tut. Am Eingang des Platzes knacken drei Männer unentwegt Stacheltiere, und vor einigen Ständen hat sich schon eine Menschentraube gebildet. Es sind die Stände mit den »besten Stücken«, von denen Marie-Laurence sprach.

Wer nur flüchtig seinen Blick über die Auslagen streifen lässt, wird eher enttäuscht sein. Die begehrten Seeigel sehen kleiner aus als jene an den Nachbarständen und besitzen vor allem viel weniger »Fleisch«. Des Rätsels Lösung: Es handelt sich um lokale Seeigel, die direkt an der örtlichen Felsküste gesammelt wurden. Die prachtvolleren Produkte stammen hingegen aus dem spanischen Galicien. Mittlerweile sind nämlich starke Beschränkungen eingeführt worden, um die heimischen Bestände zu schützen. Das Bewusstsein für Umweltbelange sei in den letzten Jahren zum Glück deutlich gestiegen, meint einer der Händler. Und Marie-Laurence ergänzt, dass es für sie ein Privileg sei, ein paar der hiesigen Seeigel zu essen, »und zwar einmal im Jahr genau hier!«

 

Die Stimmung an den Tischen ist mittlerweile eines echten Volksfestes würdig. Familien, Paare und sich gänzlich fremde Menschen diskutieren lebhaft miteinander – über die Schönheit des Ortes, das Wetter und natürlich über das Essen. Wir sind schließlich in Frankreich. Dabei geht es auf der Oursinade sehr schmucklos zu. Die Seeigel kommen auf einem Teller mit Plastiklöffel, Marie-Laurence bringt noch zwei Pappbecher mit Weißwein vom Stand der örtlichen Genossenschaft dazu.

Wie schmecken Seeigel?

Wie sie schmecken, die Oursins, ist schwer zu beschreiben. Die Konsistenz erinnert an cremigeres Rührei, ein wenig Extraktsüße prägt das Aroma, gemeinsam mit einer überwältigenden Konzentration an meerigen Empfindungen. Während in Carry-le-Rouet ausschließlich Zitrone und ein wenig Brot dazu gereicht werden, empfiehlt Aromenforscher Peter Coucquyt ein pfannengebratenes Schweinesteak. Jenes soll gaschromatographisch die meisten Übereinstimmungen mit den Meerestieren besitzen.

Als die Sonne den ganzen Hafenplatz erreicht hat und die Menschen sich auf die Felsblöcke zum Sonnen setzen, ist die Zeit für Marie-Laurence gekommen, wieder den Bus in ihren Heimatort zu nehmen. Am Hafen geht die Feier hingegen weiter. Ganz leise perlt Love Zouk der 90er aus den Lautsprechern, die Menschen auf den Bänken wiegen sanft mit. Ein winterlicher Tag am Meer, wie aus dem Bilderbuch. Und nächsten Sonntag geht es weiter, den ganzen Februar lang.

 


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