Mit Gurke, Grapefruit oder klassischer Zitronenzeste? Die geschmacklichen Akzentuierungen des Gins beginnen aber nicht erst im Glas.

Mit Gurke, Grapefruit oder klassischer Zitronenzeste? Die geschmacklichen Akzentuierungen des  Gins beginnen aber nicht erst im Glas.
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Babylonische Gin-Verwirrung: Diese interessanten Entwicklungen erobern den Markt

Gin

Der Wacholder-Boom hat einen gesättigten Gin-Markt bewirkt. Wer heute aromatisch bestehen will, macht das »klassisch« – oder ganz außerhalb des engen Korsetts von London Dry.

Es gibt kaum einen entspann­teren Longdrink als Gin & Tonic. Dass er nach der schnell erfolgten Verbindung aus Spirituose und Filler eine solche aromatische Fülle bietet, liegt bekanntlich daran, dass Gin bei genauer Betrachtung selbst bereits einen Mix, einen Cocktail, aus Früchten, Wurzeln, Kräutern und Samen darstellt. Anders als bei Destillaten aus einer Rohfrucht – klassisch wären zum Beispiel Gerste für Whisky oder Trauben für Pisco – spielt beim Gin der Ausgangsalkohol eine untergeordnete Rolle. Melasse-Destillate können ebenso mit Aromagebern belegt werden wie ein Neutralalkohol aus Kartoffel- oder Getreidemaische. Der Basisalkohol landwirtschaftlichen Ursprungs ist abseits seiner Stärke (96 Vol.-%) nicht näher definiert. Dass »der Wacholdergeschmack vorherrschend bleiben« muss, hingegen schon. So formuliert es die EU-weite Spirituosenverordnung. Und doch: Gin mit Schokolade, aus altem Gebäck, im Maulbeerfass gelagert oder mit Algen – es gibt aktuell scheinbar nichts, was es nicht gibt. Die Trend-Spirituose der letzten beiden Jahrzehnte treibt anno 2023 kuriose Blüten. Denn neue Kundengenerationen haben einen anderen Geschmack als ihre Mütter und Väter. Erdbeergeschmack im Barbie-­rosa Gin kann da schon einmal gefragter sein als knochentrockener Stoff für den Dry Martini!

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Liberal und limitiert zugleich

Die Kombination aus kommerzieller Überlegung, liberaler Aromenzugabe und Beharren auf industriell herstellbarem Neutralalkohol macht nicht nur Gin-Erzeugern zu schaffen. Denn selbst Destillateure, die ihren eigenen Alkohol erzeugen könnten, müssen zum 96-prozentigen Zukauf greifen, wenn sie am Ende »Gin« auf ihre Flaschen schreiben wollen. Dieser Alkoholwert ist nur industriell zu erreichen, bei maximal 80 Prozent ist in der Regel Schluss für den »kleinen« Brenner. Doch auch eine verlässliche Einteilung der am Markt erhältlichen Kreativ-Gins wird zunehmend schwieriger. Für das Falstaff-Verkosterteam stellt sich diese Frage Jahr für Jahr neu. Dem Buchstaben des Gesetzes nach ist ein »London Dry« mit ausgeprägten Himbeer- oder Grape­fruit-Noten durchaus denkbar, solange auch der Wacholder noch erkennbar bleibt. Man mag es beckmesserisch nennen, doch nicht die Nase, sondern der Geschmack gilt für die EU-Definition als ausschlaggebend.

Seit zehn Jahren ist Wolfgang Kaufmann als Brenner aktiv – sein Tiroler Gin erzählt von dieser Leidenschaft.
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Seit zehn Jahren ist Wolfgang Kaufmann als Brenner aktiv – sein Tiroler Gin erzählt von dieser Leidenschaft.

»Mit einigem Recht«, fügen Gin-Freunde hinzu, denn schließlich ist es ja der – zumeist mit Tonic verlängerte – Eindruck am Gaumen, der Beifall finden soll. Was bei der gegenwärtigen Fülle an Produkten, die teils auch von Brennerei-fremden Einsteigern (um das böse Wort »Agentur-Gin« zu vermeiden) kreiert werden, aber nur wenig hilft. Denn durch den Gin-Boom der letzten Jahre hat sich die Vielfalt an Stilen zwar erhöht, offiziell kennt die Spirituosenverordnung der EU aber lediglich drei Arten. Findet sich nur »Gin« am Etikett, handelt es sich um den technisch auch gerne als »Cold Compound Gin« bezeichneten Stil. Dabei wird der 96-prozentige Neutralalkohol mit Aromen versehen. Dieser Stil, der bis hierher auch den bekannten Ansatz-Schnäpsen aus Omas Rezeptkiste entspricht, darf zudem gefärbt und gesüßt werden. Zweiter im Bunde der anerkannten Stile ist der »Distilled Gin«, der seinen Hauptunterschied bereits im Namen trägt: Dafür wird der Agraralkohol gemeinsam mit den Botanicals der Wahl erneut destilliert. Dieser Stil darf auch nach dem Brennen mit Aromagebern versehen werden. Vor allem für Zutaten wie manche Blüten, die beim Erhitzen ihren Geschmack ver­lieren, stellt das die wichtigste Möglichkeit dar, im Gin Verwendung zu finden.

Mittlerweile international ein Klassiker, auf den Brenner Hans Reisetbauer stolz sein kann: »Blue Gin«.
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Mittlerweile international ein Klassiker, auf den Brenner Hans Reisetbauer stolz sein kann: »Blue Gin«.

Der ganz trockene Klassiker

Eingriffe dieser Art sind für den letzten amtlich anerkannten Stil dezidiert ausgeschlossen. Der »London Gin« darf weder nachträglich aromatisiert noch gesüßt werden. Da diese Kennzeichen ohnehin verpflichtend sind, spricht sich die EU-Gesetzgebung gegen die Verwendung des früheren Zusatzes »Dry« aus. Erlaubt ist die Bezeichnung »London Dry Gin« aber dennoch. Für den Brenner, der übrigens keineswegs in London sitzen muss, sondern auch in Leonding oder Lyon seinem Gin-Handwerk nachgehen kann, bedeutet das vor allem eines: Seine Rezeptur muss »sitzen«, alle Botanicals müssen während des Brennvorgangs zur Geltung kommen. In der Regel besorgt man das aromatische Optimum daher bereits beim »Steeping« genannten Prozess, dem Einweichen der jeweiligen Pflanzenteile. Während zum Beispiel Wurzeln lange brauchen, um aromatisch im Alkohol zu wirken, reicht bei zarteren Pflänzchen eine kürze Mazerierung.

Kräftig genug für den Mix mit Tonic muss Gin sein – beim Londoner »Sipsmith« passt das perfekt.
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Kräftig genug für den Mix mit Tonic muss Gin sein – beim Londoner »Sipsmith« passt das perfekt.

Doch das ist nur die Theorie, denn die Reise des Gins geht aktuell in verschiedene Richtungen. Ein gutes Beispiel stellt die Kategorie der im Holzfass gereiften Gins dar. Diese sind keineswegs definiert, sondern eine Spielerei, die Freunde gelagerter Spirituosen ansprechen soll. Ein Nebeneffekt liegt natürlich in einem Aromeneintrag, der durch bereits verwendete Fässer (etwa für Portweine oder Weinaperitifs) entsteht. Auch so lassen sich neue Aromen sowie Farbe in die an sich klare Spirituose Gin bringen.

Die Kategorie ohne Regeln

Die aktuelle Gin-Vielfalt macht es Systematikern aber noch schwerer. Denn eine der am schnellsten wachsenden Spielarten ist in den gesetzlichen Vorschriften ebenfalls gar nicht definiert. »Pink Gin« hat sich dennoch als ihr Überbegriff eingebürgert. Schon allein diese Namensgebung ist aber so problematisch wie die undifferenzierte Kategorie »Orange Wine«. Da die ersten explizit mit Früchten aromatisierten Gins auf Rhabarber oder Himbeere setzten, blieb das »Pink« aber an der Kategorie haften. Seinen Ausgang mag der pastellfarbene Boom zwar in Spanien mit fruchtigen Erdbeer-Gins wie »Larios Rosé« genommen haben. Mittlerweile ist aber im ­Mutterland des Gins die Liebe zu Fruchtbomben unter falscher Gin-Flagge am stärksten ausgeprägt: Zwei Drittel des Wachstums der Kategorie in Großbri­tannien gingen 2022 auf das Konto der »pinken« Gins. Sie kommen in der Regel mit nur 37,5 Volumenprozent allerdings auch dem Trend nach weniger Alkohol entgegen – und von »Gordon’s Premium Pink Gin« bis zu »Beefeater Pink« verzichtet auch kaum eine klassische Londoner Brennerei auf die Frucht­bomben.

Recht kritisch sieht diese Entwicklungen jene Destillateurin, die vor fast 25 Jahren selbst den Gin aus eingefahrenen Geschmacksgleisen befreit hat. Mit Gurke und Rosenblättern als zusätzliche »Botanicals« begründete Lesley Gracie den ­Welterfolg »Hendrick’s« – rund 12 Mil­lionen Flaschen verkauft der Gin in der Apothekerflasche aus dem schottischen Girvan heute. »Ein Gin, der nur nach ­Rhabarber schmeckt, ist kein Gin«, zieht Gracie aber eine klare Grenze des Experimentierens. Mit eigenen Limited Editions ergänzt Gracie die Basisrezeptur – praktisch immer sind es aber botanische ­Zutaten wie Lotosblume, Algen oder ­Holunderblüten. Diese fügen sich in den Aromenstrauß ein, anstatt sich vorzu­drängen.

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Historische Gin-Süßung

An der American Bar regiert auch nach wie vor dieser trockene Gin-Stil, dessen Ideal das britische Eigenschaftswort »crisp« (= knackig) gut beschreibt. Doch in den Clubs oder auf sommerlichen Terrassen und in den Schanigärten sieht das schon anders aus. Wem das nicht behagt, muss schwer schlucken. Denn die Freunde eines fruchtig-süßen Destillats haben eindeutig die (Brenn-)Geschichte auf ihrer Seite. Denn bereits das Basisgetränk Genever, das mit Wilhelm von Oranien von Holland nach England gelangte, basierte auf gesüßtem Branntwein. Der nachfolgende »Gin Craze« des 18. Jahrhunderts unter King William und seinen Nachfolgern ist aber ebenfalls vorrangig dem gesüßten »Old Tom«-Gin geschuldet.

Dieser süßere Gin-Stil dominierte lange das Feld, auch der »Plymouth Gin« gehörte zu seinen Vertretern. Er stellte – im Gegensatz zum London (Dry) Gin – tatsächlich eine Spirituose mit Herkunftsbezeichnung dar. Vor allem die britische Marine schätzte diesen Brand, der von der Black Friars Distillery hergestellt wurde. Noch in der maßgeblichen Rezeptsammlung aus dem Londoner »Savoy«-Hotel (1930 erschienen) werden mehr als 30 Cocktails explizit mit »Plymouth« gemixt. Mit dem Verzicht auf diese lokale Zuordnung durch Destillerie-Inhaber Pernod Ricard 2015 stellt diese Spielart keinen offiziellen Gin-Stil mehr dar.

Geblieben sind von den historischen britischen Getränken rund um den Wacholder auch die »Sloe Gins«. Technisch zumeist als Liköre auf Gin-Basis anzusprechen, verbinden sie die herben Früchte, nach dem ersten Frost geerntet, mit den Kräuternoten eines Gins. Das klassische Getränk zum Weihnachtstruthahn erfreut sich im Zuge der Gin-Renaissance ebenfalls erhöhter Beliebtheit – Und bildet daher auch eine Bewertungskategorie.

Volle botanische Vielfalt

Für die Verkostungs-Jury fiel daher die Entscheidung für eine dem Geschmack, nicht ausschließlich den gesetzlichen Kategorien, verpflichtete Einteilung. So können sich Traditionalisten für ihre Gimlets, Dry Martinis oder Negronis an den Stilklassiker London Gin halten. Wer lieber dem bunten Aperitif-Gefühl mit einem fruchtigen Highball frönt, will aber wissen, ob er Pink-Grapefruit- oder Himbeer-Geschmack ins Glas bekommt. Wird explizit mit einem bestimmten Geschmacksgeber geworben, dann soll man diesen schließlich auch schmecken können. Sofern der Wacholder als kategoriedefinierender Geschmack daneben nicht »untergeht«, hatten diese zumeist fruchtdominierten Gins in der Kategorie »Gin mit Key Botanicals« gute Karten. Denn am Ende eines langen Tages liest man in der Bar schließlich lieber die ­Cocktailkarte als Gesetzestexte. Und studiert am besten zuvor noch die Liste der jeweiligen Falstaff-Sieger – aus allen Gin-Stilen!


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Roland Graf
Autor
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