Nirgends ist Rheinhessens sogenannter »Roter Hang« rund um die Orte Nierstein und Nackenheim roter als am Nackenheimer Rothenberg.

Nirgends ist Rheinhessens sogenannter »Roter Hang« rund um die Orte Nierstein und Nackenheim roter als am Nackenheimer Rothenberg.
© Robert Dieth | www.dieth.com

Nackenheim Rothenberg: Wüstensand und feiner Riesling

Rot schimmert der Boden für einen weißen Wein: In der Nackenheimer Lage Rothenberg wachsen Rieslinge mit Kult- und Reifepotenzial.

Wir schreiben das Jahr 265.000.000 vor unserer Zeitrechnung, als an einem siedend heißen Tag eine Echse durch einen seichten, im Austrocknen befindlichen Tümpel watschelt. Die Abdrücke im feuchten Sand – an den Vorderfüßen mit vier, an den Hinterfüßen mit fünf Zehen – hinterlassen ein markantes Relief. Im wüstenartigen Klima der Zeit wird die Fährte des Reptils in kurzer Zeit geradezu gebacken und somit für die Nachwelt erhalten.

Lange, lange, sehr lange später ist dieser Landstrich durch die Kräfte der Erdgeschichte weiter nach Norden in ein gemäßigtes Klima gewandert. Im Lauf von Jahrmillionen haben Sedimente den ehemaligen Tümpel mit der Echsenfährte erst überlagert und wurden dann wieder abgetragen. Irgendwann gelangt genau diese Schicht wieder zur Oberfläche und gestattet den zweibeinigen, aufrecht gehenden und mit Vernunft begabten Le­bewesen, die inzwischen hier siedeln und sich auf den Anbau eines Lianengewächses namens Vitis vinifera spezialisiert haben, einen Blick in die Vergangenheit.

Johannes Hasselbach steht mitten im Weinberg und blickt auf die Reben und hinunter zum Rhein. »Wie unschwer zu erkennen ist, stehen wir im Rothenberg«, sagt Hasselbach, dessen Familie seit sechs Generationen das Weingut Gunderloch führt. Rot schimmert es unter der Begrünung in den Rebzeilen hervor, und die Abbruchkanten, die oben am Saum des Hangs zutage treten, leuchten geradezu vor Farbe. Hunderte Meter tief liegen die versteinerten ehemaligen Wüsten als Fels unter der Erde.

An den Hängen, an denen Rieslingreben wachsen, sind sie 60, 70 Zentimeter hoch von lehmig-sandiger Feinerde bedeckt – einem wertvollen, aber auch bedrohten Substrat. »Der Boden hier stammt vom Wüstensand ab«, sagt Hasselbach, »und er erodiert auch wieder zu solchem zurück«. Um diesen Prozess zu verlangsamen, lässt Hasselbach Gras in den Reihen wachsen. Im Winter graben seine Mitarbeiter Furchen ins Erdreich, »damit der Regen tief eindringen kann«. Im Sommer helfen dann die Gräser und Kräuter nicht nur mit, Abschwemmungen zu vermeiden. »Sie schützen auch das Tiefenwasser«, sagt Hasselbach. Noch vor zehn oder 15 Jahren glaubte man, dass die Begrünung zu viel Wasser aus der Bodenauflage ziehe, doch inzwischen ist nicht nur Hasselbach davon überzeugt, dass dieser Effekt marginal ist gegenüber der Schutzfunktion für den Untergrund.

Vererbte Trockenheit

Der Rote Hang wird also sein Erbe aus der Zeit des Erdaltertums, die Trockenheit seiner Böden, nicht los. Aber er hat auch eine Kultur hervorgebracht, die an diese Bedingungen angepasst ist. Zum einen ist der Rebstock eine genügsame Pflanze, die mit wenig Wasser auskommt. Zum anderen hat die Natur auch dem Roten Hang ein klein wenig Wasser spendiert: in Form einer Quelle, die vor allem einige Parzellen im Gewann Fenchelberg erfrischt, an der Grenze zur Nachbarlage Pettenthal.

Zu guter Letzt hat der trockene Boden auch seine Vorteile, etwa beim Niederhalten der Reblaus, die sich im Sand nicht sonderlich wohlfühlt. An einer der höchstgelegenen Rothenbergparzellen, nahe einer kleinen Kapelle, parkt Hans Oliver Spanier, der gemeinsam mit seiner Frau Carolin die Weingüter Battenfeld-Spanier und Kühling-Gillot leitet, seinen Wagen am Straßenrand, und schon beim Aussteigen tritt man auf rot gefärbtes Erdreich.

»Die Reben hier sind alle wurzelecht«, sagt Spanier nach ein ­paar Schritten hinein in den Weinberg, »gepflanzt 1934«. Der Stolz in seiner Stimme ist unüberhörbar. Aus der alten Anlage kommt ein furioses großes Gewächs: »Der Wein aus dieser Parzelle ist im Keller immer nochmal reduktiver als alle anderen Weine vom Roten Hang, in der Salzigkeit ist er noch spektakulärer, das liegt sicher am Boden und an den alten Reben, aber vielleicht auch daran, dass diese Parzelle nie ­in der Flurbereinigung war.«

Zudem dienen die alten Knorze als Genpool für Neupflanzungen andernorts. 18 Hektar neu gepflanzter Riesling in ­den beiden familieneigenen Gütern gehen auf Reiser zurück, die Spanier und seine Mitarbeiter in der Rothenberg-Parzelle geschnitten haben. Die alten Klone bringen weniger Alkohol, sagt Spanier, aber trotzdem mehr Aroma.

Den Rhein im Blick

Als Lage ist der Rothenberg, obwohl er mit 16 Hektar nicht zu den großen Flächen gehört, in sich nicht ganz homogen. »Alles, was in Nackenheim den Rhein sieht, ist Rothenberg«, so grenzt Dr. Dietrich Marbé-Sans vom gleichnamigen Weingut den Rothenberg von den beiden anderen Nackenheimer Lagen Engelsberg und Schmitts Kapelle ab. Im eigenen Weingut interpretiert der promovierte Önologe, der gerade ein Handbuch der Kellerwirtschaft veröffentlicht hat, den Rothenberg unter anderem als feinherbe Spätlese. Ein Wein, der mit Intelligenz und Witz gegen den Zeitgeist gebürstet wirkt und mit seiner kompakten, straffen Art auf den geduldigen Kenner setzt.

De facto sieht man, um Marbé-Sans’ Definition aufzugreifen, den Rhein allerdings auch im flach auslaufenden, von tiefgründigerem Lehm geprägten Hangfuß aus. Daher hat der VDP einzig die Hang- und die steilen Parzellen als Große Lage klassifiziert, mit rund acht Hektar nur die Hälfte der Lage. Weitere 13 Hektar des Rothenbergs sind heute Naturschutzgebiet, unter Büschen und Bäumen lassen sich noch die Weinbergterrassen früherer Zeiten erkennen. Für den Weinbau dürften diese Flurstücke dauerhaft verloren sein. 

Der bei Weitem überwiegende Anteil an den Filetstücken des Rothenberg, rund fünf Hektar, sind Eigentum des Weinguts Gunderloch, andere Betriebe besitzen hier nur kleine Parzellen, so etwa das Weingut Schmitz, das auf 15 Ar Rothenberg zu­rückgreifen kann. »Unsere Parzelle liegt ganz oben am Hang und ist extrem steinig«, sagt Dominic Schmitz, »mitten im Weinberg gibt es sogar eine Stelle, wo kaum was wächst, das sieht aus wie ein blinder Fleck.« Mit seinen 24 Jahren hat Schmitz immerhin schon sieben Jahrgänge Rothenberg vinifiziert. »Jedes Jahr ist anders«, weiß er, »und es dauert, bis man Erfahrung gesammelt hat. Aber eines bleibt von Jahr zu Jahr gleich: Der Rothenberg bringt immer das Würzige vom Schiefer, jedes Jahr mit großer Konstanz.«

Ein eigenwilliger Silvaner

Ein anderes Ministück Rothenberg bewirtschaftet seit einigen Jahren Kai Schätzel aus Nierstein. Ähnlich wie die wurzelechten Reben von Kühling-Gillot blieb auch diese Parzelle in der Flurbereinigung außen vor. Denn die mit Silvaner bestockten 20 Ar liegen ganz isoliert am nördlichen Ende des Kliffs, als das sich der Rothenberg den Rhein entlang und schließlich in den Ort Nackenheim hinein ausdehnt. Der einzige Weg rein in den Weinberg führt umständlich über den Innenhof eines Gebäudes mitten im Ort.

Da in Rheinhessen keine GGs aus Silvaner gestattet sind, füllt Schätzel den – stets mazerierten und spontan vergorenen – Ertrag der Parzelle als Nackenheimer Ortswein oder in manchen Jahren auch ohne amtliche Prüfnummer unter der Bezeichnung »Querkopf«. 2011 konnte Schätzel die Parzelle übernehmen, »seither ist dieser Silvaner für mich zum großen Lehrmeister geworden«, summiert Schätzel. »Alles, was wir heute in unserem Betrieb an Phenolik in den Weinen haben, hat von hier seinen Ausgang genommen, die Schale dieses Silvaners hat uns gestattet, das zu entwickeln, was wir heute im ganzen Betrieb machen, nämlich ein Drittel Naturwein

Die Magie dieser Parzelle liege gerade in ihrer Abgelegenheit, sagt Schätzel, darum würde er da niemals einen Wirtschaftsweg hineinbauen, selbst wenn das möglich wäre. »Zudem holen sich die Pflanzen den Boden zurück«, hat er beobachtet, in den Zeilen wachsen nun aufgrund seiner exten­siven Bewirtschaftung sogar Walderdbeeren.

Das Werk der Erdgeschichte geht also weiter. »Die wichtigste Parzelle für meinen Vater war noch der Kessel im zentralen Hang des Rothenbergs«, sagt Johannes Hasselbach. »Für mich ist es die Parzelle nördlich davon, die während der heißen Wochen des Sommers eine Stunde früher im Schatten liegt.« Doch die Tröpfchen­bewässerung, die sein Vater im zentralen Hang einbauen ließ, um dem Wüstenboden Herr zu werden, nutzt Hasselbach nur noch selten. Wenn, dann steuert er sie von Hand, »um bei Bedarf einen Landregen zu simulieren«.

Wo der Kampf gegen die Trockenheit hinführt, lässt sich in einem Menschenleben oder zwei nicht abschätzen, für die Geo­logie sind 30, 50, 100 Jahre nichts. Nur eines ist klar: Nichts ist beständiger als der Wandel, wer wüsste das besser als die Winzer. Damit alles so bleiben kann, wie es ist, lassen sie nichts unverändert auf ihrer Su­che nach dem besten, dem typischen und dem wahren Wein vom Rothenberg.

Erschienen in
Falstaff Nr. 01/2021

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Ulrich Sautter
Ulrich Sautter
Wein-Chefredakteur Deutschland
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