Den Schlusspunkt in einem langen Essen setzt üblicherweise das Dessert. Doch was, wenn das Dessert selbst eine ganze Menüfolge aus sieben Gängen ist?

Den Schlusspunkt in einem langen Essen setzt üblicherweise das Dessert. Doch was, wenn das Dessert selbst eine ganze Menüfolge aus sieben Gängen ist?
© Claudia Goedke

René Frank: Der Nachtisch-Vorreiter

In seinem Berliner Restaurant »Coda« treibt René Frank die Kunst der Nachspeise auf die Spitze – auf Kaviar muss man aber trotzdem nicht verzichten.

Da gibt es diese Waffel im »Coda«. Sieht köstlich aus, wie sie auf dem Teller liegt, goldgelb gebacken, noch warm. Begleitet wird sie von einem weiteren Teller, in dessen Mitte ein weißer Klecks gesetzt ist, verziert mit einer Aura rostbraunen Staubs.

Das ist doch aber nun wirklich ein vertrautes Dessert, oder? Na klar, die Kirschen fehlen, und etwas mehr Sahne wäre fein, aber nach Kopfsalat, Kichererbse und Tomate wartet nun ein Klassiker … Wer das glaubt, ist schon wieder reingefallen auf eine Kreation von René Frank. Mit leichtem Knuspern zerbirst die Waffel im Mund und gibt zerschmolzenen Raclette-Käse frei. Der weiße Fleck auf dem Teller, in den man zu dippen angehalten ist, stellt sich nicht als Sahne, sondern als Joghurt heraus, der rostbraune Staub bringt feine Schärfe und säuerliche Aromen mit – es handelt sich um getrockneten, feinst geriebenen Kimchi. Und die Waffel besteht aus Maismehl und Eiweiß, ist also gluten- und zuckerfrei.

Ein schlichtes Setting für ein geradezu bewusstseinserweiterndes Geschmackserlebnis: Im Berliner »Coda« wird mit manchen Vorurteilen über Nachtisch aufgeräumt.
© Claudia Goedke
Ein schlichtes Setting für ein geradezu bewusstseinserweiterndes Geschmackserlebnis: Im Berliner »Coda« wird mit manchen Vorurteilen über Nachtisch aufgeräumt.

Ist das noch Dessert?

Das ist schon ziemlich weit vorn, keine Frage, nur: Reden wir hier noch über Dessert? Der Form nach ja, genau genommen ist die Waffel fast der einzige Gang, der wie eine Süßspeise aussieht. Im Gegenteil zu den meisten anderen Tellern, die im Berliner Dessert-Restaurant »Coda« auf dem Menü stehen. Gut, es beginnt mit einem Gummibären – der kommt aber ohne ein Gramm Zucker aus und besteht praktisch nur aus eingekochtem Rote-Rüben-Saft. Es folgen Churros aus gebackenem Brandteig, allerdings schmecken sie salzig und werden von einer sämigen Misocreme und Pulver aus gerösteten Sojabohnen begleitet. Und dann geht es schon los mit Kopfsalat, salzig-süßen Kugeln aus Rindermark und Mandelmehl und eingangs erwähnten Gemüsesorten … Wo sind wir hier nur gelandet? 

Willkommen im »Coda«, Europas einzigem Dessert-Restaurant, gelegen in einer ruhigen Straße im Berliner Stadtteil Neukölln. Im »Coda« – italienisch für Schwanz oder Schweif und in der Musiksprache ein angehängter Schlussteil eines Stücks – stehen ausschließlich Nachspeisen auf der Karte. Nur, dass diese nicht aus den Zutaten bestehen, die man üblicherweise mit dem süßen Schlusspunkt eines Menüs verbindet. »Bei uns ist alles komplett anders«, sagt René Frank und setzt sich an die Theke. Es ist 22.15 Uhr, soeben hat das zweite Seating begonnen. Freie Plätze gibt es keine mehr, ein auffällig junges Publikum verbreitet ungewöhnlich lockere Stimmung für ein Spitzenlokal.

»In der Pâtisserie wird normalerweise mit halbfertigen Produkten gearbeitet, vieles wird industriell hergestellt: Schokolade, Kakaobutter, Nougat«, sagt René Frank. »Wir machen alles selbst, sogar die Schokolade.« Kein Weizenmehl, kein Industriezucker landen in den Kreationen, auf Sahne, Butter und Kuhmilch verzichtet Frank fast vollständig. Stattdessen nutzt er alternative Mehle aus Nüssen, Reis, Früchten und Gemüse, und die Süße kommt über Honig, Ahornsirup – und insbesondere aus den Zutaten selbst. Die Küche unter Leitung der Österreicherin Julia Leitner kocht etwa violette Karotten aus Brandenburg so lange ein, bis sie einen würzig-süßen Saft haben. Sie entziehen Blättern vom Kopfsalat oder hauchdünnen Scheiben von der Roten Rübe so viel Wasser, dass sie hauchdünn und knusprig werden, fast wie Karamell.

Das komplette Menü ist glutenfrei, »weil wir Herausforderungen lieben«, sagt Frank. Kommuniziert wird das nicht, genausowenig wie der weitgehende Verzicht auf tierische Produkte. Man bemerkt den klugen Ansatz nur am ausbleibenden Völlegefühl. Sieben komplexe Gänge entwickelte Frank mit seinem Team, plus weitere faszinierende Kleinigkeiten. Auf der stilvoll gestalteten Karte finden sich Shiitake und Süßkartoffel, Sellerie und Tofu. Erst im letzten Gang des Menüs entdeckt man Kakao und Haselnuss. Vorproduziert wird tagsüber in der offenen Küche, am Abend vor den Augen der Gäste angerichtet und finalisiert. Ähnlich wie ein Koch baut Frank seine Gänge um eine Hauptkomponente herum.

Umami statt Süße

So entstehen fantastische, wohlschmeckende Kompositionen, die in der Süße zurückhaltend sind, aber vor Umami strotzen. Etwa im »Cironé Cheesecake«, der sich am baskischen Käsekuchen orientiert, ihn aber dekonstruiert und neu zusammensetzt: unter einer knusprigen, dünnen Scheibe dehydriertem Sellerie befindet sich flüssiger Cironekäse. Nachdem der Gast ein Loch in den Chip gebrochen hat, wird auf den Käse eine Espressomandelemulsion gegossen. Ein Löffel davon – wow! Die Aromen sind stimmig, der Kaffee fügt sich gut ein.

Mittlerweile widmet sich Gründer und Inhaber René Frank (r.) vor allem der Entwicklung neuer Produkte, für die Umsetzung zählt er auf sein langjährig gewachsenes Team.
© Chris Abatzis
Mittlerweile widmet sich Gründer und Inhaber René Frank (r.) vor allem der Entwicklung neuer Produkte, für die Umsetzung zählt er auf sein langjährig gewachsenes Team.

Auch das Spiel mit Texturen und Temperaturen wirkt in jedem Gang so könnerhaft, dass sofort klar ist: Hier genießt man große Küche. Frank belässt es nicht bei Speisen, sondern serviert zu jedem Gang noch ausgetüftelte, selbst kreierte Shots, die das Essen begleiten und die Aromenfülle komplettieren – »wie eine Sauce«, sagt Frank. Zum Cheesecake bringt der lässige Service einen Drink aus Sherry Amontillado und japanischem Shochu, abgerundet mit einem zwanzigjährigen Mirin, und auch wenn sich das vielleicht nach Overkill anhört, es passt alles genial zusammen.

Kaviar-Eis am Stiel

Sein berühmtestes Gericht ist ein Eis am Stiel: Ähnlich wie das populäre Eis eines großen Herstellers hat es einen festen Kern, der in diesem Fall aus einer Pekannuss-Vanilleganache besteht und von Vanille-Topinambur-Eis überzogen ist, das die Küche auf genau minus sieben Grad Celsius temperiert. Seine Außenhülle macht es spektakulär: zwölf Gramm Osietra Jasmin-Kaviar von Styria, mild gesalzen. Wie die einzelnen Perlen, noch mit Biss, im Mund mit dem Eis zusammenschmelzen, das ist schon einzigartig – nicht nur die Idee, sondern auch die handwerkliche Perfektion, mit der sie umgesetzt wurde.

Auszeichnungen am Stück

Seine Kreativität und der Mut haben René Frank zu seinem der gefragtesten Patissiers des Planeten gemacht. Seit 2020 vergibt der Guide Michelin jedes Jahr zwei Sterne an das »Coda«, im vergangenen Jahr ernannte die »World’s 50 Best List« René Frank zum besten Patissier der Welt. Die Voraussetzungen dafür brachte er mit. Er machte eine Ausbildung zum Koch und absolvierte seine Lehrjahre fast ausschließlich in der Spitzenküche, arbeitete in Japan, Spanien, den USA und der Schweiz. Seine letzte Station vor der Selbstständigkeit war das damals dreifach besternte, mittlerweile geschlossene »La Vie« in Osnabrück, wo ihn Küchenchef Thomas Bühner als Chef Patissier im Jahr 2009 einstellte und ihm freie Hand ließ.

Zusammen mit seinem Geschäftspartner Oliver Bischoff eröffnete Frank 2016 das »Coda«, damals noch als Dessert-Bar, in der die Speisen sechs Euro kosteten – was finanziell wenig nachhaltig war. Nach und nach tasteten sich die Pioniere zum heutigen Konzept vor. Die Auswahl des Orts war übrigens kein Zufall, denn: »In Berlin kannst du alles sein, was du willst«, meint René Frank. Und wie man Schubladen-Denken mit Kreativität überwindet, hat er eindrucksvoll gezeigt.


Philipp Elsbrock
Philipp Elsbrock
Autor
Mehr zum Thema
Kulinarik
Fondants au Chocolat
Das leuchtend grüne Matchapulver, fein aus Grünteeblättern gemahlen, bereichert nicht nur...
Von Laure Kié