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Ehrenrettung des Oktoberfests: Mental Health im Bierzelt

Man kann so viel über die Wiesn lachen, wie man möchte. Die Betrunken, die Trachten, der Bierzelt-Stumpfsinn. Aber wenn man sich darauf einlässt, wird man belohnt.

Es ist dieser Tage nicht einfach, ein Bayer zu sein. Ständig muss man sich rechtfertigen: für einen Ministerpräsidenten, dem keine Provokation zu blöd ist, um nicht damit Wahlkampf zu machen, für einen Wirtschaftsminister, der keinen erwachsenen Umgang mit seiner Nazi-Jugend zu finden scheint und jetzt auch noch für Millionen Menschen, die sich in Tracht und aller Öffentlichkeit die Birne wegsaufen. Zugegeben, das ist alles schwer zu erklären. Aber weil ich nun mal ein Münchner bin und es mir widerstrebt, mich dafür zu schämen, möchte ich zumindest den Versuch einer Ehrenrettung wagen. Söder und Aiwanger können meinetwegen schauen, wo sie bleiben. Aber am Oktoberfest muss doch etwas Positives zu finden sein.

»Nächster Halt: Theresienwiese«, spricht es vom Band. Ich atme durch, besinne mich darauf, nicht die Nerven zu verlieren, ich versuche positiv zu denken und sage mir selbst in dem Zugezogenen-Bayrisch, das ich nun mal spreche: »Des wird a Mordsgaudi.« Irgendwie kann ich mich noch nicht so recht überzeugen. Ich denke an die Motivationscoaches, die einem immer erzählen, man müsse nur lang genug in Superman-Pose vorm Spiegel stehen und schon könne man all seine Potentiale abrufen und frage mich, was das auf’s Oktoberfest übersetzt bedeuten könnte. Ich probiere ein bayrisches Grinsen aus, eins, bei dem sich die Wangen vor Lebensfreude in pralle Kissen verwandeln und flüstere meinem Spiegelbild in der U-Bahn-Fensterscheibe zu: »Servus, du Hundskrüppel!« Das hilft und die Bahn hält.

Schon die in einem dunklen Gelb gehaltene Station fühlt sich an, als müsste man über die Rolltreppe aus einem überdimensionierten Bierglas an die Oberfläche dümpeln. Wie träge Luftblasen suchen wir den Weg an die Oberfläche. Am Gleis steht ein Mann in gelber Warnweste und spricht mit sonorer Stimme Mantras in ein Mikrofon: »Die Spielregel für heute ist: Ganz gemütlich.« Ein Mann mit silbernen Stoppeln im Gesicht schiebt seine Begleiterin Richtung Rolltreppe. Sie nickt: »Der will wohl die Gemüter beruhigen.« Er: »Mich beruhigt er nicht.« An seine Tracht hat er eine Wäscheklammer angebracht, auf der »Super Hengst« steht.

Ein Tag wie aus einer Söder-Rede

Endlich oben. Die Sonne scheint, der Himmel ist blau, es ist ein Tag wie aus einer Söder-Rede. »Wir in Bayern kommen besser durch jede Krise als alle anderen Länder«, sagt mein internalisierter Söder und ich schaue den ersten torkelnden Trachtenträger hinterher, um die These an der Realität zu messen. Vielleicht hat er Recht, vielleicht ist das, was auch immer das hier ist, tatsächlich gelungenes Krisenmanagment. Schließlich ist – wie Forscher der Universität Cambridge gerade herausgefunden haben – Verdrängung womöglich besser für die Psyche, als bislang angenommen. Aus einer rein individuell-psychologischen Perspektive – das schlussfolgere ich ganz frei, während ich im Begriff bin auf einer Bierbank Platz zu nehmen – ist eine Maß also eine Maßnahme für die geistige Hygiene. Mental Health im Bierzelt quasi.

Der Zufall hat mich in den Biergarten der »Ochsenbraterei« getrieben. An meinem Tisch sitzen zwei Spanier, drei Bayern und Mark. Die Spanier zeigen sich gegenseitig Fotos, auf denen sie Bierkrüge halten, sie sehen müde aus, aber glücklich. Die drei Bayern – es wirkt als gehörten sie zusammen – schauen vor sich hin, vielleicht auch in sich hinein, das ist schwer zu sagen. Sie sprechen nicht miteinander, nicken sich aber gelegentlich gegenseitig zu. Ihre sprachlose Innigkeit hat etwas Rührendes. Mark strahlt mich an. »Bist du das erste Mal auf der Wiesn?«, fragt er in einem herrlichen Singsang aus britischem Akzent und bayrischem Dialekt. Ich bejahe. »Das ist super«, sagt er. Er sei Brite, wohne aber seit ein paar Jahren im Allgäu. Plötzlich springt er auf die Bank und schreit: »Oz, machst du uns nochmal zwei?« Oz ist unser Kellner, kurz rasierte Haare, durchtrainierte Arme, er bringt mir die erste Maß. Ich schaue ihn dankbar an, er mich zweifelnd. Schon mit dem ersten Schluck bricht der letzte Rest Widerstand in mir. »Mia san mia«, sage ich, mehr so vor mich hin. Mark ist begeistert: »Genau, jetzt hast du’s: Mia san mia!« Er prostet mir zu und wir trinken. Plötzlich ist das Glas leer, dann wieder voll, wieder leer. Im nächsten Moment stehe ich auf einer Bierbank, neben mir Mark, er schreit zu mir rüber: »Ich liebe dich, Mann! Mia san mia!« Die Band spielt »We are the champions« und ich gröle mit, wovon ist gerade egal.

Das Mia-san-mia-Gefühl

Und klar: Es ist einfach, sich über all das hier lustig zu machen. Die Frauen, die sich einen Hut aufziehen, der aussieht wie ein Hendl, das auf Knopfdruck anfängt zu tanzen, die alkoholgeschädigten Männer, die an den Festzeltwänden kauern und in ihrer Verrenkung verharrend darauf warten, bis ihre Körper ihnen mehr Bier erlauben, die Sauftouristen aus Australien, die nach der zweiten Maß anfangen, ihre Unterwäsche über die Bierbänke zu schleudern. Aber jetzt, hier neben Mark auf der Bierbank, fühle ich etwas: Alles ist verlangsamt. Als wäre ich in einen Pool aus Bier gesprungen. Um mich herum ist Bier, in mir ist Bier, ich bin Bier. Keine Grenze schützt mich mehr vor den anderen, keine Grenze trennt mich mehr von den anderen. Ich lege meinen Arm um Marks Schultern und flüstere ihm ins Ohr: »Ich bin Moritz, du auch? Sind wir nicht alle eins? Mia san mia!«

Die Band spielt eins ihrer Lieder, der Sänger singt: »Weiß der Geier oder weiß er nicht, scheiß egal, ich liebe dich!« Und spätestens da wird mir klar: Es gibt hier keinen doppelten Boden. Nichts hat eine Bedeutung, die irgendwo zwischen den Zeilen schwingt, die man erfühlen muss, bei der es hilfreich sein könnte, kurz in sich zu gehen. Alles ist eindeutig. Die Männer, die sich Wäscheklammern anheften, auf denen »Geiler Bock« steht, die Lieder, deren Texte nur aus Worten, statt aus Inhalten bestehen und natürlich Mark, an dessen Liebe ich zumindest für den Moment keinen Zweifel habe. Es kann schon gut tun, all den Mist, der einen den Alltag vermiest unter einem Maßkrug zu verstecken: die Klimakrise, die Aiwangers und Söders, den Krieg. Zack, steht das Glas drauf und die Geister spuken erst morgen wieder. Für den Moment ist alles klar, nichts ist missverständlich oder kompliziert. Die Band spielt ihren Tusch: »Oans, zwo, drei, g’suffa!« Um die Welt kümmern wir uns morgen wieder.

Moritz Hackl
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