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Essay: Friede des guten Willens

In der Weihnachtsbotschaft, die einen irdischen Frieden verheißt, verbirgt sich ein durch und durch revolutionäres Konzept. Es muss wohl ein Sehnsuchtsziel bleiben. Und dennoch erlangt das Bedürfnis nach Harmonie gerade an den Feiertagen eine verführerische Dringlichkeit.

Es ist eine im Grunde genommen universelle Botschaft, die alle Grenzen der Religionen und Kulturkreise überschreitet. »Frieden den Menschen auf Erden«, lautet sie. Wichtiger Zusatz: »Die guten Willens sind.« Ein einfacheres, der Natur und Vernunft gemäßeres Gesetz der Glückseligkeit sei nicht denkbar, meinte der schweizerisch-österreichische Geschichtsforscher Friedrich von Hurter.

Dieses zentrale Element der Weihnachtsbotschaft, die nach der testamentarischen Überlieferung von Engeln, den Sendboten einer überirdischen, himmlischen Heerschar, einer Gruppe verängstigter Hirten in der damals entlegenen römischen Provinz Palästina verkündet wird (und die im gleichen Atemzug die Geburt eines Kindes ankündigt, das zum Erlöser von den zahllosen Unzulänglichkeiten der menschlichen Natur werden sollte), stellt zugleich ein utopisches Versprechen dar: die Rückkehr in den paradiesischen Zustand vollkommener Harmonie zwischen Natur und Kultur, zwischen einem imaginierten Urzustand der bedingungslosen Eintracht und dem evolutionären Prinzip des Überlebenskampfes rivalisierender Arten unterschiedlicher Lebewesen.

Die Entwicklung der belebten Welt ist von einer Prämisse geprägt: Wer sich besser an die fortwährend verändernden Lebensumstände anzupassen weiß, wird überleben. Während all jene Arten, die darauf beharren, ihren jeweiligen Entwicklungsstand unverändert beizubehalten, dem Untergang geweiht sind. Das Leben, lehrt die Erfahrung, kenne keinen Stillstand, sein Fortbestand basiere auf kontinuierlicher Veränderung, die notwendigerweise zu häufig existenziellen Konflikten führt. 

Eine höhere Kraft

Vor diesem Hintergrund verbirgt sich in der Weihnachtsbotschaft, die einen irdischen Frieden verheißt, ein durch und durch revolutionäres Konzept. Es zielt auf die vollkommene Umwälzung aller Erfahrungswerte ab. Es will das Konkurrenzverhältnis, in dem sowohl Individuen wie auch Kollektive, die sich um identitätsstiftende kulturelle Merkmale formiert haben, aufeinanderprallen, aufheben und außer Kraft setzten. An seine Stelle tritt eine Vision: die metaphysische Überzeugung von der Existenz einer höheren Kraft, deren ordnender Macht sich alle Dinge unterzuordnen hätten. Sie allein sei in der Lage, das Friedensversprechen einzulösen und als Lohn für die freiwillige Unterwerfung der Menschen unter ihr moralisches Diktat in Aussicht zu stellen.

Mit dieser Vision betrat eine bestechende neue Idee die historische Bühne. Ihr zugrunde liegt die Existenz eines universellen höheren Wesens, das die bis zu diesem Zeitpunkt dominierenden und untereinander rivalisierenden Naturgottheiten ablöst. Und der menschlichen Zivilisation ein ihrer bisherigen Erfahrungen zuwiderlaufendes Ziel formuliert: den allgemeinen Frieden des gesamten Menschengeschlechts.

Darin liegt die prinzipielle Grundlage des Christentums. Insofern erfüllt es eine logischen Abfolge, dass in der Erzählung des Evangeliums der Ankündigung von der Ankunft des Erlösers die weihnachtliche Friedensbotschaft vorangestellt wird. Sie repräsentiert das Ziel allen irdischen Strebens, die Vorwegnahme des himmlischen Friedens bereits auf Erden. Ganz klar, es muss ein Sehnsuchtsziel bleiben, da die Vorherrschaft friedlicher Verhältnisse einen Zustand der Vollkommenheit voraussetzt, welcher der menschlichen Natur fremd ist.

Natürlich hat auch das Christentum im Lauf seiner zweitausendjährigen Geschichte unentwegt gegen seine Grundsätze verstoßen und sie in vielen Phasen geradezu mit Füßen getreten. Denn auch seine primäre Zielvorstellung liegt in der Dominanz seiner Heilslehre, die ihren Überlegenheitsanspruch in der Regel nur mit gewaltsamen Mitteln durchzusetzen wusste. 

Alle Triebfeder menschlichen Handelns ebenso wie auch der kulturellen Entwicklung liegt nach evolutionärer Erfahrung in konkurrierenden Verhältnissen – sowohl einzelner als auch unterschiedlicher Gruppen untereinander – mögen sie sich national, kulturell oder religiös definieren.

Diese Rivalität führt natürlich zu Konflikten, die in aller Regel mit Mitteln ausgetragen werden, die im offenen Widerspruch zu friedlichen Prinzipien liegen. Ein wesentliches Ziel der zivilisatorischen Entwicklung lag daher darin, die Mechanismen zur Austragung dieser Konflikte in geregelte Bahnen zu lenken und sie durch Regeln und Gesetze zu steuern, die in verschiedene internationale Ordnungsprinzipien mündeten. Die fundamentalen Konflikte gänzlich aus der Welt zu schaffen, ist daher eine unerfüllbare Illusion, die jedoch in der Lage ist, menschliche Bestrebungen zu beflügeln und pazifistische Aktivitäten zu inspirieren.

Auf diesen illusionistischen Vorstellungen fußt allerdings die weihnachtliche Friedensbotschaft. Und zumindest an diesen Feiertagen erlangt das Bedürfnis nach Harmonie eine häufig verführerische Dringlichkeit. Paradoxerweise explodieren jedoch gerade auch in diesen vermeintlich friedlichen Tagen häufig innerfamiliäre Konflikte, die unter einer mühsam aufrechterhaltenen friedfertigen Decke dahinschlummerten, mit ungeahnter Heftigkeit. Der vorherrschende Zwang zu einer harmonischen Grundstimmung hat in aller Regel erst diese emotionalen Ausbrüche ausgelöst.

Doch trotz aller Ungereimtheiten bleibt die Hoffnung auf einen allumfassenden Frieden das zentrale Narrativ der Menschheitsgeschichte. Sie mag eine utopische Vorstellung sein, doch gerade in Zeiten, in denen Berichte über Gewalt, Vernichtung und Zerstörung dominieren, gewinnt die Idee der Weihnachtsbotschaft Kraft und Dringlichkeit.     


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Erschienen in
Falstaff Nr. 10/2023

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Joachim Riedl
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