© Gina Müller

Food-Trends: Unser Essverhalten im Wandel

Unser Essverhalten ist im Grunde recht konservativ – und doch hat es sich in den letzten 40 Jahren massiv gewandelt: Alles muss einfach und rasch gehen, bio sein und bewusst passieren. Das hat messbare Folgen.

Eben hat die Falstaff-Redaktion die Food-Trends 2021 erarbeitet, doch bei langfristigen Entwicklungen lohnt sich ein Blick zurück: Vieles von dem, was wir heute in unserer kulinarischen Welt als sehr normal wahrnehmen, hat in den Achtzigerjahren gerade erst Fuß gefasst. Die Mikrowelle zum Beispiel, die sich kontinuierlich über das Jahrzehnt in den Küchen etabliert hat. Erst durch sie konnte Convenience-Food, ob Tiefkühlkost oder Dosenware, seinen Höhenflug beginnen – befeuert durch eine zunehmend arbeitsteilige Gesellschaft, die für Einkaufen und Zubereitung immer weniger Zeit aufwenden konnte und wollte.

Auch situatives Snacken lag bereits in der Luft, auf den Straßen poppten immer mehr Imbissstände auf. Durch Wohlstand, Reisen und Migration etablierte sich Internationales auf den Tellern. Pizzerien lagen im Trend, Burger-Ketten und die Asia-Küche eroberten sich ihren Platz. Die wichtigste Hauptmahlzeit verlagerte sich langsam Richtung Abend, der Außer-Haus-Konsum stieg kontinuierlich an.

Zugleich wuchs der heute gesellschaftlich fest verankerte Wunsch nach Authentizität, Regionalisierung und Herkunftskennzeichnung, natürlicher Kost ohne Zusatzstoffe und mehr Bioprodukten, bis hin zur Spiritualisierung der Ernährung. Mitte der Neunzigerjahre bezeichnete der Zukunftsforscher Matthias Horx diesen Weg als »Soft-Individualisierung«, deren Aspekte heute noch – oder wieder – hochaktuell anmuten. 

Wenn Teller wachsen

Während die Preise für Lebensmittel sukzessive abnahmen, ist in den vergangenen Jahrzehnten der Anteil an größeren Portionen gestiegen, vor allem in Gastronomie und Handel. In den USA etwa hat sich das Angebot an größeren Portionen in den Supermärkten seit 1970 verzehnfacht. Die Oberfläche der Speiseteller hat seit 1960 um ein Drittel zugenommen, auch die
Portionsangaben in Kochbüchern haben zugelegt. Heikel an den größeren Portionen ist, dass wir sie relativ schnell als adäquate Menge wahrnehmen. Dadurch essen wir mehr und nehmen mehr Kalorien auf – bei doppelter Portionsgröße immerhin um bis zu 42 Prozent.

Das Problem ist, dass sich die Größe der Portionen nicht nur auf die aktuelle Kalorienaufnahme auswirkt, sondern dass sie über kurz oder lang auch zum neuen Standard wird. Sowohl die Weltgesundheitsorganisation als auch die OECD empfehlen daher, auf die Portionsgrößen zu achten und sich wieder an kleinere Mengen zu gewöhnen. Die Rückkehr zu alten Normen wird mit einigen Gastro-Konzepten bereits realisiert. Und das ist gut so, schließlich erachtet das McKinsey Global Institute die Portionskontrolle sogar als die effektivste Maßnahme zur Bekämpfung von Übergewicht und Adipositas und als weitaus wirksamer als spezifische Steuern, gerade in Österreich nun wieder diskutierte Werbeverbote oder erweiterte Lebensmittelkennzeichnungen, mögen sie nun als Ampeln oder sonst was daherkommen. 

Schuld und Sahne

Zwar hat die Vollwertkost ihre Ursprünge schon in den Siebzigerjahren, inzwischen gängige Empfehlungen zur gesunden Ernährung sind jedoch eindeutig ein Kind der Neunziger. Von den USA inspiriert, veröffentlichte die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) 1992 zehn Regeln für eine vollwertige Ernährung in Form einer Pyramide. Im Zuge dessen wurde schon damals konstatiert: Die Menschen essen zu viel, zu fett, zu süß, und sie trinken zu viel Alkohol. Mit lebensmittelbezogenen Empfehlungen sollte sich das ändern. Doch schaut man sich die Daten an, bestätigt sich, was der deutsche Ernährungspsychologe Volker Pudel immer wieder betonte: »Die Menschen essen wie früher und haben zusätzlich ein schlechtes Gewissen dabei.«

Überbordendes Gesundheitsbewusstsein auf Kosten des unbeschwerten Genusses führt damals wie heute zu einem restriktiven und schuldbeladenen Essverhalten. 1995 fühlte sich in Großbritannien jede dritte Frau beim Konsum von Schokolade, Chips, Obers und Saucen »schuldig«. Es war nicht umsonst die Zeit der ersten »Light-Welle«. Heute ist für acht von zehn Menschen in Österreich »gut essen und trinken« zwar ein wichtiges Thema, aber etwa sieben von zehn haben zugleich stets ein schlechtes Gewissen, wenn sie genießen. Der Megatrend Gesundheit führt bei manchen bis zu tatsächlichem »Zwang zu gesundem Essen«, dessen Hauptmotive ein verbesserter Gesundheitszustand und eine schlankere Linie sind. Diese Form der Essstörung, die sogenannte Orthorexia nervosa, wird schon über zwanzig Jahre lang beobachtet. 

Auch dort, wo es nicht um Krankheitsbilder geht, dient der Ernährungsstil zunehmend zur Definition der eigenen Person, als Ausdruck persönlicher Haltungen und Ziele, Werte und Identität. Wir sehen Trends von vegetarisch und vegan über Paleo bis hin zu Raw Food. Doch der Großteil der Menschen, die im Laufe ihres Lebens eine andere Ernährungsweise als herkömmliche Mischkost probieren, kehrt irgendwann wieder zu eben jener zurück – häufig aus recht profanen Gründen wie Orts-, Partner- oder Jobwechsel oder einfach aufgrund des erweiterten Produktangebots. 

Gemessen und gewogen

Wie aber hat sich der Ernährungsstatus in den letzten 40 Jahren verändert? Das lässt sich für Österreich nicht so leicht beantworten. Denn während in Deutschland 1969 der erste Ernährungsbericht veröffentlicht wurde, sollte es in Österreich noch knapp dreißig Jahre dauern, bis die Ernährungslage auf nationaler Ebene erhoben wurde. 1998 erschien der erste österreichische Ernährungsbericht, bis heute liegen fünf vor. Hinweise aus »grauer Vorzeit« sind allerdings im Jahr 1994 zu finden.

Woran es immer noch fehlt

Kurz vor dem EU-Beitritt Österreichs flammte das Interesse mit mehreren Berichten und Studien etwa von Bund, Stadt Wien und AMA plötzlich auf. Im Vergleich zeigt sich etwa, dass heute insgesamt nicht sonderlich viel mehr Kalorien aufgenommen werden als früher. Selbst der Anteil von Kohlenhydraten, Fett und Eiweiß ist eher stabil. Dafür landen heute mehr Gemüse und Hülsenfrüchte und weniger Schweinefleisch auf den Tellern. Ein Plus gibt es außerdem bei Mineralwasser und Tee. Alkohol hingegen wird deutlich weniger getrunken. Parallele Trends belegt auch der neue Ernährungsbericht aus Deutschland. 

Teils kritische Unterversorgung herrscht jedoch immer noch im Hinblick auf Vitamin D, Kalzium, Eisen, Folsäure und Jod. Bei Vitamin D ist klar: Über Lebensmittel allein kann sich ausreichende Versorgung nicht ausgehen. Dafür muss die körpereigene Produktion angekurbelt oder supplementiert werden. Die eigene Synthese erfolgt über Aufenthalte im Freien, wenn man sich täglich etwa zehn bis zwanzig Minuten dem UV-Licht aussetzt. Die Versorgung mit Eisen wurde zwar in den letzten Jahrzehnten deutlich besser, bei Frauen kann es aber immer noch leicht zum Mangel kommen. Mit Kalzium und Folsäure sind wir heute besser versorgt als früher, verfehlen aber im Durchschnitt die empfohlenen Mengen immer noch um ein paar Prozent.

Sogar verschlechtert hat sich die Lage beim Jod, das essenzieller Bestandteil für das Schilddrüsenhormon Thyroxin ist und eine zentrale Rolle in Stoffwechsel und Nervensystem spielt. Neun von zehn Menschen kommen nicht auf die empfohlene Menge. Die durchschnittliche Aufnahme ist etwa um 35 Prozent zu niedrig. Noch in den 1990ern waren es nur fünf Prozent.
In einem Binnenland wie Österreich, noch dazu mit jodarmen Böden, wird daher seit 1963 Speisesalz mit Jod angereichert. Doch dessen Aufnahme ist rückläufig, und das lässt sich nicht nur mit dem Boom von Himalayasalz & Co erklären. Auch in Deutschland, wo Meeresfisch einen höheren Stellenwert hat, ist wachsender Jodmangel festgestellt worden. Einer Erhebung der Uni Gießen zufolge liegt das am geringeren Einsatz von jodiertem Speisesalz in Brot und Fleischwaren.

Lauter Sitzenbleiber

Klar ist: Noch nie war das Interesse für Essen so groß wie heute – doch trotz der generell besseren Ernährungssituation wird in Deutschland wie in Österreich vermerkt: Die Menschen werden immer dicker. Helmut Heseker, Professor für Ernährungswissenschaft von der Universität Paderborn, spricht vom »Fluch unserer steinzeitlichen Gene«, weil der Körper bei Energieüberschuss Fettzellen bildet, wenn man nicht gegensteuert. Wir sind jedoch Steinzeitmenschen mit einem inzwischen, wie es die Wissenschaft nennt, sedentären Lebensstil. Anders gesagt: Das Leben im Sitzen zu verbringen legt sich an den Hüften an. 

Erschienen in
Falstaff Jubiläums Spezial 2020

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Marlies Gruber
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