Jan Hartwig im Sterneglück

Jan Hartwig im Sterneglück
© Guide Michelin

Kritikerlegende bemängelt fehlende Härte beim Guide Michelin

Jürgen Dollase gilt als einer der wichtigsten Restaurantkritiker des Landes. Hier erklärt er, warum ihm die Sternevergabe inflationär erscheint und was er unter einer kulinarischen Währungsreform versteht.

Falstaff: Herr Dollase, Sie halten sich gerade in Frankreich auf. Sind Sie etwa geflüchtet vor der Verleihung der Michelin-Sterne?
Jürgen Dollase: Ich habe noch nie an einer Sterneverleihung teilgenommen. Als junger Mann war ich Rockmusiker, ich bin also bestens vertraut mit dem Zweck von Promo-Veranstaltungen. Und ich halte sie gelinde gesagt für verzichtbar. Meine Frau und ich sind hier in Frankreich zu etwas, das ich wegen der wunderbaren Möglichkeiten hier immer Studienreise nenne. Ich habe die Bekanntmachung aber im Live-Stream verfolgt. Vor allem wegen der Frage, ob Jan Hartwig gleich drei Sterne bekommt.

Der Guide Michelin vergab diesmal in Deutschland so viele Sterne wie nie zuvor – und das nach einem für die Gastronomie eigentlich schwarzen Jahr mit Inflation, explodierenden Energiepreisen und Fachkräftemangel. Hat Sie die Rekordzahl von 334 Sternen überrascht?
Überhaupt nicht. Wir erleben in der Spitzengastronomie einen Schneeballeffekt. In den 70er-Jahren machten in Deutschland erstmals viele Gourmetrestaurants auf und fingen an, fleißig Leute auszubilden, die wiederum ihre Leute ausbildeten und so weiter. Davon profitieren wir jetzt. Wobei ein Stern nicht mehr ganz so viel aussagt. Handwerkliche Meisterhaftigkeit, die früher eine Grundvoraussetzung war, vermisse ich doch bei einer ganzen Reihe von Ein-Sterne-Köchen.

Gastrokritiker Jürgen Dollase, Jahrgang 1948: »Die Bewertung müsste härter und schärfer sein.«
© Peter Schulte für CPA
Gastrokritiker Jürgen Dollase, Jahrgang 1948: »Die Bewertung müsste härter und schärfer sein.«

Sind die Testerinnen und Tester des Guide Michelin milder geworden in ihren Urteilen?
Ohne Frage gibt es mehr Köche, die auf einem hohen Niveau kochen, als etwa vor 20 oder 30 Jahren. Die Maßstäbe müssten daher angepasst werden, sonst erschlägt einen die Zahl der vergebenen Sterne bald. Ich rate dem Guide Michelin bereits seit Jahren zu einer kulinarischen Währungsreform. Auch unter den Drei-Sterne-Köchen ist die Bandbreite zu groß. Bildlich gesprochen touchieren die einen die Latte beim Sprung, während die anderen einen halben Meter drüber fliegen.

Wie könnte solch eine kulinarische Währungsreform aussehen?
In jeder Sternekategorie nur halb so viele Restaurants wie aktuell zu prämieren, wäre sinnvoll. Die Bewertung müsste härter und schärfer sein. Dann wäre auch die Auszeichnung aufgewertet. Das Problem ist doch: Inzwischen sind die Beurteilungskriterien des Guide Michelin so etabliert, dass Köche ganz einfach lernen können, einen Sterne-Teller anzurichten.

Der Guide Michelin wollte sich lösen von den alten Zwängen.

Und zwar?
Man braucht vor allem allerlei Deko-Elemente, ein Blättchen hier und ein paar Texturen da, und alles bildlich, Instagram-tauglich. Ralf Flinkenflügel, der Direktor des Restaurantführers für Deutschland und die Schweiz, hat sich in einem Interview kürzlich auch verraten: Er schwärmte von einem Saiblingsgericht mit einem gebrannten Sennenrahm und Tannenöl. Das sei eines der Gerichte, das er niemals vergessen werde. Völlig puristisch, aber geschmacklich eine Explosion. Er sollte in seiner Position solche Bemerkungen nicht machen. Es gehört sich nicht, Pfade vorzugeben, die dazu führen, dass andere machen, was ihm gefällt.

In Frankreich hingegen rüttelte der Guide Michelin die Gastro-Welt ziemlich auf mit Abwertungen. Insgesamt stufte er in diesem Jahr fünf Restaurants herab, 20 verloren gar vollständig ihre Sternebewertung. Darunter die Spitzenköche Guy Savoy und Christopher Coutanceau.
Der Guide Michelin versucht in Frankreich wieder ernst genommen zu werden. Das Problem war: Die obere Spitze wurde dort seit Jahrzehnten von einer speziellen Garde von extrem einflussreichen Köchen besetzt, Bocuse, Ducasse, Robuchon. An die hat man sich nicht herangetraut. Deren Einfluss war von einem Ausmaß, wie man es sich hierzulande nur schwer vorstellen kann. Das waren Verhältnisse wie im Vatikan.

Die französische Spitzenküche war also zu eintönig?
Man ist in die Abhängigkeit einer Stilistik geraten, die diese Köche geprägt haben. Das Verhältnis dazu änderte sich bei Michelin erst 2019, als mit Marc Haeberlin die erste Restaurantlegende auf zwei Sterne heruntergestuft wurde. Er war das erste Monument, an das man ging. Da sich sein Restaurant in der Provinz befindet und Haeberlin ein sehr netter, friedlicher Mensch ist, war er das einfachste Opfer. Die Herabstufung von Guy Savoy im März war dann der Befreiungsschlag für viele junge Spitzenköchinnen und -köche Frankreichs. Der Guide Michelin wollte sich lösen von den alten Zwängen und Platz für mehr Spiel bekommen. Das dürfte ihm auch gelungen sein.

Die Italiener, Spanier und Franzosen können nicht an ihrer eigenen Küche vorbeikochen.

Noch einmal zurück zu Deutschland: Spiegeln die am Dienstagabend ausgezeichneten Restaurants denn die Charakteristik unserer Küche wider?
Da muss man differenzieren: Wir haben in Deutschland ein problematisches Verhältnis zu unserer kulinarischen Tradition. Ich bedauere, dass man sich von den altüberlieferten deutschen Gerichten zu stark abgewendet hat. Auch der Guide Michelin bewertete Restaurants, die sich der traditionellen deutschen Küche verschrieben haben, nicht so gut wie sie eigentlich bewertet gehören. Unsere frühe Ablösung von den deutschen Küchenbräuchen und Hinwendung nach Frankreich und dann wiederum zu Beginn der 2000er-Jahre die Ablösung von unserem Nachbarland als einzig dominanter Bezugsgröße, bescherte der deutschen Küche eine unvergleichliche Freiheit.

Inwiefern?
Die Italiener, Spanier und Franzosen können nicht an ihrer eigenen Küche vorbeikochen. Hierzulande hat man keinen Bleifuß auf der Tradition stehen. Das führt dazu, dass wir in Deutschland eine der freiesten Spitzenküchen weltweit haben. Köche wie Jan Hartwig spielen mit Aromen aus der ganzen Welt und verfolgen dabei einen ganz eigenen Stil.

Jan Hartwig schafft es mit seiner Restaurantneueröffnung auf Anhieb in die oberste Kategorie, innerhalb von nur knapp einem halben Jahr. Eine Herabstufung unter den Drei-Sterne-Köchen gibt es dagegen nicht. Berechtigt?
Nach der Aufregung vom letzten Jahr um die Abwertung von Joachim Wissler, ging es wohl darum, die Wogen wieder zu glätten. Dass der seinen Stern damals verloren hat, war aber in meinen Augen keine rein kulinarische Entscheidung, es ging wohl auch darum, den Guide Michelin in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu rücken. Um Wissler nach dessen erheblichen Bemühungen und der Überarbeitung seines Konzeptes sofort wieder zu drei Sternen kommen zu lassen, hätte bedeutet, dass man bei Michelin so denken müsste, wie man es immer behauptet: nur an der Qualität orientiert. In diesem Jahr ist die Aufregung geringer, weil die Entscheidungen nachvollziehbarer sind.

Herr Dollase, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.

Sebastian Späth
Sebastian Späth
Chefredakteur Deutschland
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