© Marko Seifert

Billy Wagner: Gastronomie-Rebell revolutioniert mit Verhaltenskodex die Branche

Das mit einem Michelin-Stern ausgezeichnete »Nobelhart & Schmutzig« positioniert sich mit dem »Guide of Conduct« gegen Machtmissbrauch, sexuelle Belästigung und Diskriminierung. Inhaber Billy Wagner spricht im Interview über die kritikwürdige Arbeitskultur in der Gastronomie, den Entwicklungsprozess des Guides – und wie er im laufenden Betrieb Anwendung findet.

Egal ob in der Politik, der Unterhaltungsbranche oder der Gastronomie – Schlagzeilen über Machtmissbrauch, sexuelle Belästigung und Diskriminierung haben in den letzten Wochen und Monaten wieder einmal die Öffentlichkeit aufgeschreckt und zu wichtigen Diskussionen geführt. Bleibt es meist bei Letzterer, geht der Berliner Wirt Billy Wagner einen Schritt weiter.

Für sein Restaurant »Nobelhart & Schmutzig«, das mit einem Michelin-Stern ausgezeichnet ist und auf Platz 45 der aktuellen »The World's 50 Best Restaurants« Liste rangiert, hat er einen sogenannten »Guide of Conduct« erstellen lassen. Dieser Verhaltenskodex, verpflichtet alle Mitglieder des Unternehmens bestimmte Werte, Prinzipien und Verhaltensregeln einzuhalten. Der knapp 30-seitige Guide thematisiert und verurteilt unangemessene Verhaltensweisen wie Machtmissbrauch, sexuelle Belästigung, Diskriminierung und Mobbing. Wagner hofft, dass die Veröffentlichung des »Guide of Conduct« eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der Gastronomie bewirkt und die Branche wieder attraktiver für Nachwuchstalente macht.

 

Herr Wagner, das Nobelhart & Schmutzig hat seit neuestem einen Guide of Conduct, also einen Verhaltenscodex für seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Warum?

Der Guide of Conduct dient als Leitfaden. Er legt unsere Werte und Grundsätze als Unternehmen fest und definiert klare Kommunikations- und Verhaltensregeln, die von allen befolgt werden müssen. Dadurch möchten wir sicherstellen, dass niemand in unserem Unternehmen Macht missbraucht, andere belästigt oder diskriminiert. Wir schaffen dadurch ein Arbeitsumfeld, in dem jede:r sein volles Potenzial entfalten kann und sich geschützt und geschätzt fühlt.

Das ist nicht überall so, wie die jüngsten Schlagzeilen rund um Christian Jürgens zeigen. Ihm werden Machtmissbrauch, Schikane und teils sexuelle Belästigung vorgeworfen. Auch Tim Raue beleidigte und kommandierte in der Vergangenheit seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vor laufender Kamera. Was ist das Problem in der Gastronomie?

Überforderung, Druck und zu viele Aufgaben gleichzeitig. Mit diesem Stress umgehen und Ruhe bewahren, können nicht viele. Viele Service- und Küchenkräfte haben nie gelernt, Überforderung zu kommunizieren, weil es in einem patriarchal geprägten Arbeitsumfeld wie der Gastronomie nicht gewünscht ist. Im Gegenteil: Es wird als Schwäche ausgelegt. Manche Menschen können das nicht bewältigen. So wird Machtmissbrauch, Sexismus oder Diskriminierung begünstigt.

Nicht der Gast steht im Fokus, sondern der Mikrokosmos, um den Teller herum.

Gab es im Nobelhart & Schmutzig selbst Vorfälle, die zum Guide of Conduct geführt haben?

Auf einer Weihnachtsfeier ist ein Praktikant unangenehm aufgefallen. Das ist vorher nie passiert, weshalb es kein Verfahren gab, wie wir mit so etwas umgehen sollten. In großen Organisationen gibt es dafür entsprechende Abteilungen. Im Nobelhart & Schmutzig hat dieser Vorfall zum Guide of Conduct beigetragen.

Wie hilft euch der Guide, würde es heute zu solch einer Situation kommen? 

 Unsere Mitarbeiter:innen kontaktieren eine Person außerhalb des Unternehmens und besprechen mit ihr, wie es weiter geht und welche Konsequenzen daraus folgen. Wir schaffen damit Sicherheit und ein Umfeld, in dem andere Kriterien wichtiger sind als pünktlich zu kommen oder zu 100 Prozent zu performen.

Welche Rolle spielen Gäste bei den Umgangsformen in einem Restaurant?

Gastronomie läuft nach dem Motto: Der Gast ist Königin oder König. Alles um ihn herum wird vergessen. Bei uns ist das anders: Der Gast ist Mittel zum Zweck. Er bezahlt, sodass wir unseren Fokus auf ein festes, regional inspiriertes und ressourcenschonendes Menü legen können. Am Beispiel der Textilbranche: Wer ein in Bangladesch produziertes T-Shirt kauft, nimmt auch die Umstände, das heißt die schlechten Arbeitsbedingungen, unter denen dieses Produkt entstanden ist, in Kauf. Anders gesagt: Der Gast kann sich bei uns sicher sein, dass sein Gericht, unter den bestmöglichen Bedingungen für alle, die daran beteiligt waren, entstanden ist. Nicht der Gast steht im Fokus, sondern der Mikrokosmos, um den Teller herum.

Das Lokal legt seinen Fokus auf ein festes, regional inspiriertes und ressourcenschonendes Menü.
© Nobelhart-Schmutzig
Das Lokal legt seinen Fokus auf ein festes, regional inspiriertes und ressourcenschonendes Menü.

Würden Sie im Bewerbungsprozess bei gleicher Qualifikation die Frau bevorzugen?

Ja, weil es immer ein Mangel an weiblichen Arbeitskräften gibt, sie aber wichtig für die Teamdynamik sind. Wir wissen, dass weiblich sozialisierte Personen dazu neigen, sich nicht auf eine Stelle zu bewerben, wenn sie nicht alle Anforderungen erfüllen. Alle, die sich in diesem Satz wiederfinden, bitten wir ausdrücklich drum, sich zu bewerben. Gleiches gilt für Menschen, die strukturell benachteiligt sind. Bei uns sind das LGBTQ+-Personen, PoC, neurodivergente Personen und Menschen mit Behinderungen, wie auch »ältere Semester«.

Das eigene Unternehmen auf Missstände zu untersuchen, ist nicht einfach. Wie sind Sie vorgegangen?

Seit 2018 fragen wir uns, wie wir unsere Mitarbeiter:innen halten und unterstützen können. Unweigerlich kam so die Frage auf: Diskriminieren wir eigentlich? Angefangen bei den unbezahlten Praktika, die sich nur privilegierte Menschen leisten können, bis hin zur Sprache auf unserer Homepage. Die ganzen Ausmaße sind uns nach und nach bewusst geworden. Dafür haben wir Hilfe von außen in Anspruch genommen: Angeleitet von den Berater:innen vom »CK Collective« haben wir im Team unsere Vision, Mission und Werte erarbeitet sowie ein Lohn Benchmarking erstellen lassen. Dabei ging es auch darum, Lohngerechtigkeit im Nobelhart & Schmutzig zu schaffen und was eigentlich ein Gehalt ist, von dem man gut leben kann.

Das Team des »Nobelhart & Schmutzig«
© Caroline Prange
Das Team des »Nobelhart & Schmutzig«

Sehr schön, dass Sie das alles feinsäuberlich aufgeschrieben haben. Aber wie setzen Sie es aktiv um?

Der Guide of Conduct ist Teil des Arbeitsvertrags und der Arbeitsprozesse. Wenn dagegen verstoßen wird, werden entsprechenden Schritte eingeleitet. Wichtig ist die Beratung und Betreuung durch Lisa Ertl, die als außenstehende Vertrauenspersonen agiert. Sie hilft uns bei der Organisationsentwicklung und coacht uns als Führungskräfte, damit wir lernen, was Machtmissbrauch heißt und wo er anfängt. Wir haben Workshops und Trainings zum Themenbereich Anti-Diskriminierung bei den »Vielfaltsprojekten« absolviert und gemeinsam mit den Frauen im Team ein Farbcode-System erarbeitet, mit dem im laufenden Service auf Grenzüberschreitungen oder gar sexuelle Belästigung durch Gäste reagiert werden kann.

Einige Unternehmen sind dazu übergegangen, Beziehungen am Arbeitsplatz zu unterbinden, sofern sie zwischen Vorgesetzten und Angestellten stattfinden. Wie halten Sie da die Balance?

Es ist einfach, Drogen zu verbieten, also jeglichen privaten Kontakt zwischen den Mitarbeiter:innen. Es heißt nicht umsonst: »Don't shit where you eat, don't fuck where you work«, aber wir sind erwachsene und mündige Menschen. Der Guide of Conduct macht dem Part, der eine gewisse Position und Macht hat, das bewusst. Die weiblich gelesene Person ist häufig so sozialisiert, dass sie ein Nein umschifft. Der männliche Gegenpart allerdings so, dass er dreimal mehr fragt. In diesen Situationen entstehen Dynamiken, die man voraussehen kann und kommunizieren kann. Der aktive Part kann dem passiven Part so die Möglichkeit des Neins aktiv einräumen. Prinzipiell sollte man sich aber immer fragen: Ist es den Fick wert?


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Anna Wender
Anna Wender
Redakteurin
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