Boom bei Patisserien: Die Lust am Süßen

In Frankreich eröffnen laufend Dessert-Boutiquen, in denen Spitzenköche wie Modeschöpfer ihre verwegenen Kreationen präsentieren.

Es sei gar nicht so lange her, erzählt Pierre Hermé, dass Patissiers wie er von ihren französischen Koch-Kollegen noch als Mehl-Fresser verspottet wurden, als Schnapsnasen gar, weil sie häufig mit Likören und Bränden arbeiteten und bekannt dafür waren, dabei ein wenig für sich selbst abzuzwacken. »Damals galt der Patissier noch als eine Art armer Verwandter des Kochs, mittlerweile hat sich das zum Glück radikal geändert«, fährt Hermé fort. »Inzwischen ist die französische Patisserie ein angesehenes Handwerk, auf einer Stufe mit der Kochkunst.« Dass dem so ist – und darüber ist man sich in Frankreich einig –, ist in erster Linie Hermé selbst zu verdanken, der in seiner Heimat als absoluter Superstar gilt und als größter Erneuerer der Zuckerbäckerei seit dem legendären Gaston Lenôtre, seinem Lehrmeister.

Das Goldene Zeitalter der Patisserie
Tatsächlich ist in jüngster Vergangenheit in Frankreich ein regelrechter Hype um die Konditorkunst entstanden, weswegen bisweilen sogar vom Goldenen Zeitalter der Patisserie die Rede ist. In der Hauptstadt Paris vergeht kaum eine Woche, ohne dass wieder ein Patissier oder auch ein arrivierter Spitzenkoch eine Boutique – wie man hier sagt – eröffnet, die von Design und Einrichtung her eher an ein Juweliergeschäft erinnert und in der, ähnlich wie bei Juwelieren und Modeschöpfern, die zweimal jährlich erneuerten süßen Kollektionen aufwendig präsentiert und zumeist teuer verkauft werden.

Leichtes japanisches Dessert aus der »Pâtisserie Ciel« / Foto: © tibo

Bei den Küchenchefs waren das alleine im vergangenen Jahr etwa der zugleich bekannteste und erfolgreichste Koch Frankreichs, Alain Ducasse, der nahe der Oper am Place de la Bastille eine Chocolaterie unter seinem Namen einweihte, sowie sein Kollege Jean-François Piège, der Ende November unweit seines Zwei-Sterne-Lokals »Thoumieux« eine Konditorei mit Namen »Gâteaux Thoumieux« eröffnete. Oder auch noch Cyril Lignac, der zusätzlich zu seinen drei Restaurants in der Hauptstadt nun auch eine Konditorei betreibt. Das steigende Interesse für das, was man inzwischen »La haute patisserie« nennt, ist auch im französischen Fernsehprogramm abzulesen, wo gleich mehrere Reality-Shows bekannten Formats laufen und Titel tragen wie »Der beste Patissier«, »Wer wird der nächste große Patissier?«, »Die süße Minute« oder auch »Die Torte meiner Träume« und in denen entweder Profis vorgestellt werden oder aber Kandidaten, die sich in der Konditorkunst messen. Zudem erscheint seit Kurzem auch ein Heft namens »Verrückt nach Patisserie«, das sich ausschließlich dem Thema Süßspeisen widmet. Außerdem wird alljährlich im März in Paris ein internationaler Wettbewerb ausgetragen, der sich »Mondial des arts sucrés« (Weltmeisterschaft der süßen Künste) nennt.

Claire Damon ist bekannt für ihre legendäre Mango-Tarte / Foto: beigestelltPatisserie auf nie dagewesenem Niveau
Unter den arrivierten Patissiers, die gleichfalls mit glamourösen Boutiquen auf den Markt drängen, finden sich zahlreiche, die bei Großmeister Hermé in Ausbildung waren, so zum Beispiel Claire Damon, eine der wenigen Frauen im Gewerbe. Erst im vergangenen Winter hat Damon ihr zweites Lokal im siebten Pariser Arrondissement eingeweiht. »Durch Hermé ist der Zugang zu unserer Arbeit um einiges intellektueller und konzeptueller geworden«, sagt die gertenschlanke Mittdreißigerin. »Er war es auch, der durch intensive Arbeit am Produkt selbst, an den Zutaten, dem Service, der Verpackung und der elegant-modernen Gestaltung seiner Boutiquen die Patisserie auf das Niveau gebracht hat, auf dem wir uns heute bewegen.«

Bekannt ist Damon vor allem für die Qualität der Früchte, die sie in ihren Kreationen verarbeitet. Naturgemäß spiegelt sich der hohe Preis auch in ihren Torten wider, wie zum Beispiel in ihrer legendären Mango-Tarte, für die sie doch recht stolze 27 Euro verlangt. »Eine gute Frucht zu essen, ist heute eben schon ein Luxus«, sagt Damon achselzuckend. Außerdem seien in der Tarte für vier Personen immerhin zwei große und perfekt gereifte Mangos verarbeitet, dazu echte Vanille und im Gegenzug nur sehr wenig Zucker, Mehl und Eier.

Nur wenige Schritte entfernt von Damons gestyltem Geschäftslokal mit Namen »Des Gâteaux et du Pain« und ebenfalls in der Rue du Bac, die sich langsam, aber sicher als die Konditormeile der Hauptstadt etabliert, liegt die »Pâtisserie des rêves« (die Konditorei der Träume), eine von sieben Verkaufsstellen in Frankreich des Patissiers Philippe Conticini, der als einer der großen Erneuerer des Gewerbes gilt. »Mitte der 1980er-Jahre stagnierte die Patisserie bei Mousses und Coulis«, so Conticini zur französischen Tageszeitung »Le Monde«. »Damals zählte Optik noch mehr als Geschmack, während zum gleichen Zeitpunkt in der Haute Cuisine gerade wahre Künstler wie Alain Passard am Werk waren und ungeahnte Emotionen erzeugten. Genau diese Emotionen waren es, die ich in der Patisserie wiederfinden wollte.«

Modern gestalteter Dessert-Schauraum im »Des Gâteaux et du Pain« / Foto: beigestellt

Der Trend schwappt über
Erst im vergangenen Jänner eröffnete Conticini ein Geschäft in London, womit er drauf und dran ist, die neu erwachte Leidenschaft der Franzosen für die Kunst des Torten- und Macarons-Backens auch über den Ärmelkanal zu exportieren. Ein Land, in dem sich die französischen Konditoren längst ­etabliert haben, ist das Patisserie-verrückte Japan, wo sowohl Conticini als auch Hermé bereits mehrere Filialen betreiben. Aber auch die Japaner drängen nach Paris, so hat etwa im Vorjahr die Patissière Aya Tamura Leroy mit ihrer »Pâtisserie Ciel« die erste ­japanische Konditorei in Paris eröffnet, wo die ursprünglich aus Amerika stammenden, aber in ihrer Heimat Japan äußerst beliebten Angel Cakes (kleine, sehr leichte Torten aus Biskuitteig) erzeugt werden. Ebenfalls in der Rue du Bac, nicht weit entfernt von Damon, Conticini und Co., hat im vergan­genen Jahr eine weitere Konditorei eröffnet. Diesmal ein Klassiker im Retro-Look, ­nämlich die neunte Pariser Filiale des aus der Belle Époque stammenden Tee-Salons »Angelina«, der 2013 den 110. Jahrestag ­seiner Gründung durch den österreichischen Konditormeister Antoine Rumpelmayer ­feierte – was uns daran erinnern sollte, dass einst auch in Österreich die Patisserie als hohe Kunst galt.

>>> Für sie recherchiert: Die besten Pariser Dessert-Boutiquen

Text von Georges Desrues aus Falstaff Deutschland 06/14

Georges Desrues
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