Weinbau im Antlitz der Anden: Chiles Winzer sind seit jeher damit vertraut, das Beste aus teils widrigen Bedingungen zu machen – seien es extreme Trockenheit oder Weinbau am Fuße von Sechstausendern.

Weinbau im Antlitz der Anden: Chiles Winzer sind seit jeher damit vertraut, das Beste aus teils widrigen Bedingungen zu machen – seien es extreme Trockenheit oder Weinbau am Fuße von Sechstausendern.
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Chile im Wandel: Eine Weinbauregion erfindet sich neu

Klimaveränderungen, Wassermangel und sich wandelnde Konsumentenbedürfnisse sorgen für ein Umdenken bei den Winzern – was eine Vielzahl neuer, bemerkenswerter Weine hervorbringt.

Der Weinbau in Chile wurde ursprünglich von den spanischen Eindringlingen initiiert und geht offiziell auf das Jahr 1548 zurück. Erste größere Weinkellereien entstanden im späten 19. Jahrhundert. Das Land blieb wegen seiner geografisch isolierten Lage von der Reblaus-Katastrophe verschont, konnte diesen Vorteil aber nicht für sich nutzen. In den frühen 1990er-Jahren keimte mit einer demokratisch gewählten Regierung Hoffnung für die allmählich wachsende Weinwirtschaft auf, bald erkannte man den Nutzen der Weine als devisenbringende Exportgüter.

Die ­chilenische Weinlandschaft spiegelte lange die sozialen Strukturen des Landes wider – und tut es großteils heute noch. Eine quasiaristokratische Oberschicht, gebildet meist aus Familien mit europäischem Hintergrund, besitzt das fruchtbare Land und – noch wichtiger – die Wasserrechte. Die indigene Bevölkerung bildet die arbeitende Schicht mit enden wollenden Rechten.

© Stefanie Hilgarth / carolineseidler.com

Musterland Südamerikas

Obwohl Chile seit 1990 als wirtschaftliches Musterland in Lateinamerika gilt, ist die Kluft zwischen Arm und Reich ungewöhnlich groß: 40 Prozent der Bevölkerung sind im sogenannten »informellen Bereich« tätig – das sind Müllsammler, Straßen­musiker, Schuhputzer und ähnliche prekäre Arbeiten. Bergbau prägt den Wirtschaftssektor, Rohstoffe, allen voran Kupfer und Salpeter, sind das wichtigste Standbein. Rund ein Viertel der Landesfläche kann landwirtschaftlich genutzt werden, der Anbau von Lebensmitteln konzentriert sich aufgrund des Klimas auf die Mitte des rund 4300 Kilometer langen Landes mit nur maximal 200 Kilometer Ausdehnung auf der West-Ost-Achse. Der Wein liegt beim Export von landwirtschaftlichen Gütern nur auf Platz vier.

Chile ist der größte Obstexporteur der südlichen Hemisphäre, die Fischerei liegt hinter Kupfer und Landwirtschaft auf Platz drei – Lachs aus Chile ist ein Renner, auch die Holzwirtschaft ist bedeutend. Die Weinwirtschaft erstreckt sich auf Flächen ab etwa 500 Kilometer nördlich (konkret das staubtrockene Valle del Elqui am Südrand der Wüste Atacama) der zentral gelegenen Hauptstadt Santiago bis etwa 650 Kilometer südlich der Kapitale (Malleco, eine kühle, regen­reiche Region in Bío-Bío). Das historisch wichtigste Anbaugebiet namens Maipo erstreckt sich südlich der Landeshauptstadt. Hier wurde der ausgezeichnete Ruf des chilenischen Rotweins dank der Bordeaux-­Sorte Cabernet Sauvignon begründet.

Terroir statt Woodchips

Heute zeigt sich das Weinland Chile so facettenreich wie nie zuvor. Neben den altbekannten Namen drängen immer mehr neue, kleine Weingüter nach oben durch. Klimawandel, aber auch veränderte Ansprüche der Konsumenten erfordern von den Produzenten ein rasches Umdenken, das bereits positive Folgen verzeichnet.

Zur Ausgangslage: Was auf den ersten Blick so vielfältig erscheint, erweist sich bei genauer Betrachtung als ein Markt, der von nur drei wirklich großen Playern beherrscht wird, die sich hinter zahlreichen Etiketten verbergen. Concha y Toro ist laut Zahlen des Fachmagazins »Drinks Business« überhaupt das größte Weingut der Welt, gemessen an eigener Rebfläche (mehr als 10.500 Hektar), und die drittgrößte Marke. Dazu gesellen sich Santa Rita und die Gruppe VSPT, die San Pedro, Tarapacá und Co. inkludiert. Zusammen repräsentiert dieses Trio vier von fünf Flaschen chilenischen Weins. Ende der Neunziger-, Anfang der Zweitausenderjahre hatte sich beim chilenischen Rotwein die Formel »viel Kraft, viel Holz« als Erfolgsstil für die Konsumweine voll etabliert. Neben der Menge an Eichenchips wuchs auch still und leise der Restzucker in Höhen, die in Europa nicht mehr als »trocken« gelten. Für die lokale Weinindustrie hatte das einen Vorteil: Hinter so viel »Schminke« waren auch keinerlei Defizite des Traubenmaterials mehr zu erkennen, Terroirtypizität suchte hier ohnehin niemand. Mit dieser bei einer breiten Konsumentenschicht – vor allem um kleines Geld – gerne akzeptierten Art von Wein kann eine jüngere Generation heute allerdings nichts mehr anfangen. Spätestens in den letzten zehn Jahren hat ein globaler Paradigmenwechsel eingesetzt. Man wünscht sich heute frische, trinkfreudigere Weine, sortentypische Produkte, die von ihrer Herkunft erzählen. Der Trend geht zu Weinen mit weniger Alkohol und definitiv nicht in Richtung Süße, sondern zum wirklich trockenen Stil. Und mit dem Klimawandel ist diese Erkenntnis – zumindest teilweise – auch in Chile angekommen.

Kühle Jahre bevorzugt

Wurden hier früher noch die heißen, trockenen Jahrgänge wie 1993 oder 1999 als groß gefeiert und kühlere Jahrgänge gefürchtet, so hat sich das Bild nun gewandelt. Dazu kommt, dass wegen fehlender Niederschläge und weniger Schmelzwasser aus den Anden die Trockenheit in der Landwirtschaft zum Problem wird. Bereits 2015 waren die Zeichen unübersehbar, als nach anhaltender Dürre sogar Teile der mit Bewässerungsanlagen ausgestatteten Weingärten im Limarí Valley eingingen. Der führende Weinjournalist Chiles, Patricio Tapia, verweist in seinem aktuellen Weinguide »Descorchados« auf den Umstand, dass der einst berühmteste Chardonnay-Rebberg in Quebrada Seca schlicht und einfach vertrocknet ist und dass das Weingut De Martino dort 2014 seinen letzten Jahrgang vom Single-Vine-yard-Chardonnay machen konnte. Der fehlende Niederschlag stellt heute bereits auch in zentralen Gebieten wie Maipo, Maule und Colchagua ein nicht zu unterschätzendes Problem dar und zwingt die Winzer, über andere Methoden im Weinbau und über die Wahl der Rebsorten nachzudenken. Vor zehn Jahren gab es im Valle Central so gut wie keinen Stock von mediterranen Rebsorten. Mit Bedingungen, die eher jenen von Châteauneuf-du-Pape als jenen von Bordeaux ähneln, sind nun neben Syrah auch Sorten wie Grenache, Carignan und Mourvèdre im Vormarsch.

Kein Wunder, dass in den letzten Jahren neue Gebiete in kühleren Zonen in der Nähe zur Küste für den Anbau herangezogen werden. Wie zuletzt neben den bereits bekannten Appellationen wie Casablanca und Leyda auch Paredones und Litueche in Colchagua, wo der eisige Humboldtstrom zur Wirkung kommt, oder in über tausend Meter Seehöhe, wie in Colchagua Andes oder Cachapoal Andes. 

Hotspot im Süden

Verstärkte Aktivitäten sind auch im Süden des Landes zu beobachten: Itata, Bío-Bío und Malleco entwickeln sich zu wahren Hotspots, die südlichste Region mit Rebbergen ist das kühl-regnerische Osorno. Itata steht heute für feine, leichtfüßige Rotweine aus uralten Rebbergen, bepflanzt mit lebendigem País und delikatem Cinsault – Weine, erzeugt von Individualisten in oft recht kleiner Auflage. Aber genau diese auf Granit und Vulkangestein entstandenen Produkte bilden die perfekte Antithese zu den üppig-süßen Kommerzweinen der Vergangenheit aus Eichenchips und Zucker. Die gute Nachricht: Es sind die ganz großen Kellereien, die am schnellsten auf diese Entwicklungen reagieren. Und plötzlich zeigen sich auch die preiswerten Produkte zunehmend trocken, weniger verholzt und lebendiger. Es sind vor allem mittelgroße Erzeuger, die noch auf den alten Pfaden wandeln, während an allen Ecken und Enden ein ganz neues Chile heransprießt.


Best of Chiles Klassiker

ZUM TASTING


Und so gestaltet sich das Angebot von heute: eine Handvoll echter Spitzenweine, ein sehr diverses Programm von jungen, neuen Namen, die sehr schnell auch in Europa das aufgeschlossene und junge Publikum begeistern werden, und ein sehr breites Sortiment an preisgünstigen, korrekt gemachten, allerdings zum Großteil völlig austauschbaren Weinen. Und bei Letzteren muss man sich im Sinne der Ökobilanz auch die Frage stellen, ob es wirklich sinnvoll ist, diese um den halben Globus zu verschiffen.

Aufgrund der sehr variablen Witterungsbedingungen und der enormen Ausdehnung des Landes auf der Nord-Süd-Achse sind generelle Aussagen zur Qualität eines Jahrgangs schwierig und beziehen sich meist auf das Valle Central, wo die großen Abfüller sitzen. Klimawandel und El Niño sorgen aber für starke regionale Unterschiede, die sich leicht an den Niederschlagszahlen erkennen lassen: Im feuchtkalten Jahrgang 2016 lag der Wert bei 571 Millimeter Regen im Durchschnitt, für das brütend heiße, trockene Jahr 2020 wurden ganze 68 Millimeter berechnet. Das folgende Jahr 2021 war eines der kältesten, brachte Frühjahrsfrost und einen Gesamtniederschlag von unter 300 Millimeter. Nahezu ideal für ­chilenische Verhältnisse präsentierte sich zuletzt 2018 – ein kühleres Jahr mit moderaten, aber ausreichenden Niederschlägen, das in allen Ecken des Landes sehr gute Weine hervorbrachte. Winzer, die finessenreiche Weine herstellen möchten, präferieren heute die weniger heißen Bedingungen. Zu diesen rechnet man aktuell die Jahrgänge 2021, 2018, 2016 sowie die Jahre von 2014 bis einschließlich 2010.

Erschienen in
Falstaff Nr. 01/2023

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Peter Moser
Peter Moser
Wein-Chefredakteur Österreich
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