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Cortis Heimatliebe: Der Stockfisch ist ein Tiroler

Heute gilt der gebackene Dorsch als das klassische Wirtshaus-Fischgericht par excellence. Das war nicht immer so, speziell in den Alpen. Das Tiroler Stockfischgröstl, einst auch in Nordtirol das klassische Freitagsessen, wird heute fast nur noch in Südtirol hochgehalten. Dabei schmeckt es ganz köstlich und hat eine Menge Geschichten zu erzählen.

Na und? Vicenza liegt ja auch nicht am Meer – und trotzdem ist das typischste Gericht der Stadt der ­»baccalà alla vicentina«, sagt Willy Alber, der Wirt des traditionsreichen Gasthauses »Vögele« in der Altstadt von Bozen. »Und wir haben eben den ›baccalà alla bolzanina‹«, lacht er und tut einige Stücke Stockfisch in eine Pfanne, in der schon Zwiebel und Erdäpfel rösten. Wovon Alber redet und was er gerade zubereitet, heißt auf gut Tirolerisch schlicht Stockfischgröstl. Heute fast vergessen, war es auch in Nordtirol bis in die 1960er hinein eine ebenso typische wie uralte Tiroler Fastenspeise. Heute findet man sie fast ausschließlich auf Südtiroler Wirtshauskarten, wie eben im »Vögele«. Eine rühmliche Ausnahme ist der »Gröbenhof« in Fulpmes im Stubaital, wo Stockfischgröstl noch ab und an aufgetischt wird – allein die Beschaffung des Stockfischs ist mit Aussterben der ­Tradition auf einmal schwierig geworden.

Früher, als Fisch an Fasttagen das einzig erlaubte Fleisch darstellte, war der jahrelang haltbare Stockfisch ein logisches Produkt für die Ernährung entlegener Alpen­täler. In Südtirol hat sich die Tradition dank der anspruchsvollen italienischen Gäste im Unterschied zu Nordtirol gehalten: Die kommen wegen genau solcher einzigartiger Delikatessen.

Der Geschmack ist ausgeprägt, mit ­charakteristisch reifem, durchdringendem Aroma. Gleichzeitig aber vermittelt das zart blätternde Fleisch nach entsprechendem Einweichen über zwei Tage (Wasser täglich mehrmals wechseln!) sehr attraktiven Biss und eine Konsistenz, die durchaus an das Fleisch von Krabbenklauen erinnert. ­Insgesamt also eindeutig das, was die Angelsachsen als »acquired taste« so ­treffend beschreiben: beim ersten Mal herausfordernd, auf die Dauer aber geradezu süchtigmachend gut. Und zwar speziell in Kombination mit anderen starken Aromen wie Safran, gegrillten Paprika, aber natürlich auch Knoblauch oder, wie beim Tiroler Stockfischgröstl klassisch,  Essiggurken und Wacholderbeeren.

In einer Zeit, als das religiöse ­Fasten noch vielerorts eine Selbstverständlichkeit war, wurden Stockfisch und Klippfisch von den kalten Wassern des Nordatlantiks quer über den Erdball verschifft, in Porto, Genua oder Venedig angelandet, über uralte Handels­wege auf die Märkte Venetiens und Tirols gebracht und auf Eselsrücken in die abgelegenen Bergtäler des gesamten Alpenbogens getragen. Zu den traditionellen Küchen Nord- und Südeuropas gehört er heute genauso wie zu jener ­Brasiliens, Jamaikas und der Kleinen Antillen. Damit ist Stockfisch eines von vielen Beispielen, dass Globalisierung am Lebensmittelsektor nichts Neues ist. Und eine Erinnerung daran, dass lokale Küchenkultur nicht nur in Frische und Territorium wurzelt, sondern häufig auch in Konservierung, Austausch und Handel.

Rezepte mit konserviertem Kabeljau ­finden sich auch in den Küchentraditionen von Genua, Palermo, Neapel oder Bari. ­Diese liegen zwar am Mittelmeer. Nur: Darin ist noch nie ein Kabeljau geschwommen, denn der stammt aus den Tiefen des Nord­atlantiks und kommt, neben ­Norwegen, wo der Stockfisch als Exportprodukt ebenso Tradition hat, in riesigen Schwärmen vor Neufundland vor – vor der amerikanischen Küste. Gefischt und nach Europa gebracht wurde er über die Jahrhunderte vorzugs­weise von portugiesischen Fischern.

Einen guten Eindruck von der Bedeutung des Stockfischs für die Ernährungstradi­tionen ganz Europas – und insbesondere ­Portugals – gibt deshalb das Meeresmuseum von Ílhavo, einem Fischerstädtchen an der Atlantikküste Portugals. »Bereits als die allerersten Seefahrer im 16. Jahrhundert den Ozean überquerten, brachten sie auf ihrer Rückfahrt getrockneten und gesalzenen Kabeljau mit«, erklärt Manuel Nunes da Fonseca vom Meeresmuseum. »Bis zum Ende der Diktatur im Jahr 1974 war es den Fischern nur erlaubt, auf hölzernen Segelbooten, den ›lugres‹, nach Neufundland zu segeln und den Kabeljau ausschließlich mit Leinen zu fischen«, so Fonseca.

Jeder Fischzug wurde solcherart zum ­epischen Abenteuer. Das hatte mehrere Gründe. Erstens sah die ständestaatliche Diktatur in der Segelbootfischerei eine Art Sinnbild für »wahres Portugiesentum«, das es zu bewahren galt. Außerdem diente sie zur Erhaltung von Arbeitsplätzen auf den Schiffen und in den Werften. Und schließlich befürchtete man schon damals, dass
die industrielle Fischerei die riesigen ­Fischschwärme in den Grand Banks vor ­Neufundland bedrohen könnte. »Die Versorgung des Volks mit Bacalhau war für die Stabilität des Regimes von großer Bedeutung – hätte es Engpässe gegeben, wäre es mit Sicherheit zu Aufständen gekommen«, sagt Fonseca.

Für traditionelles Tiroler Stockfischgröstl nimmt man auf ein Kilo eingeweichten Stockfisch etwa ein halbes Kilo am Vortag gekochte und geschälte Erdäpfel. Der Fisch wird in einem zehn Minuten durchge­kochten Sud aus je einer Zwiebel, Karotte, Lauch und einer Rippe Stangenzeller mit Lorbeer, Pfefferkörnern und je einem Zweig Dill und Petersil eingelegt und nach dem Wiederaufkochen zehn Minuten bei kleiner Hitze ziehen gelassen. Aus dem Sud heben und noch warm von Haut und allen Gräten befreien – das geht gut mit den ­Fingern. Eine Zwiebel blättrig schneiden und in Butter durchschwitzen, eine Knoblauchzehe dazupressen sowie drei gehackte Wacholderbeeren zugeben. Die in Scheiben geschnittenen Erdäpfel zufügen und flott durchrösten. Den Fisch in großen Stücken unterheben, einen Schuss Weißwein, zwei klein geschnittene Essiggurken, Zitronenschale und frisch gehackten Dill und Petersilie unterheben, mit frischer Zitronen­schale abschmecken, bei Bedarf salzen und pfeffern, etwas Rahm angießen, durch­mischen und mit Sauerkraut (wow, noch mehr gereifte Aromen!) oder grünem Salat auftragen. Nur so viel: Viel tirolerischer wird’s nicht!


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Severin Corti
Severin Corti
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