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Essay: Migration geht durch den Magen

Menschen, die gern gut essen, trinken und kochen, sind meist die angenehmeren Zeitgenossen. Denn kulinarisch Interessierte können gar nicht anders, als zumindest ein wenig weltoffen zu sein.

Nicht auszudenken, was wir in Mitteleuropa essen müssten ohne all die fremden Menschen, Tiere, Gemüse, Techniken, die hier in den vergangenen Jahrtausenden durchgekommen sind. Ohne sie gäbe es keine noch so grundlegenden Gewürze wie Pfeffer oder Paprikapulver, Tomaten, Kartoffel oder Melanzani, Kiwi und Banane wären völlig unbekannt. Sogar das Sauerkraut verdanken wir plündernden mongolischen Reitern, die es wiederum von den Chinesen hatten.
Noch wichtiger als die Zutaten sind aber die Köche. Gastronomie, vor allem in großen Städten, ist und war immer schon maßgeblich von Migranten geprägt. Die Arbeit in der Branche ist oft hart und schlecht bezahlt, gleichzeitig muss keiner deutsch sprechen können, um ein Schnitzel zu frittieren oder ein Käsefondue anzurühren. Ein Restaurant ist oft der erste Ort, an dem neu Ankommende Arbeit finden, wo sie gewollt und gebraucht werden.
Doch Migranten schuften nicht nur im Verborgenen, sie eröffnen auch selbst Restaurants und bereichern damit die Esskultur ihrer neuen Heimat. Was wäre Berlin ohne Kebapbuden und Currywurststände oder, aktueller, ohne die Taco-, Ramen- und Pho-Läden oder die australischen Cafés, die »Kreuzkölln« gerade zu einem der abwechs­­­­lungsreichsten kulinarischen Pflaster Europas machen? Was wäre Wien ohne Liptauer, Krakauer oder gar die slowenische Krainer? Wer würde in Zürich essen wollen, wäre die kleine Stadt nicht Heimat für erstaunlich viele Menschen aus der ganzen Welt?
Gerade die aktuelle Einwanderungswelle aus Syrien, dem Irak und Afghanistan birgt kulinarisch großes Potenzial in sich: Wie wunderbar wäre es, wenn die Neuankömmlinge bei uns die Vielfalt und Würzkraft ihrer großen, aber kaum bekannten Küche feiern würden, den kreativen Umgang mit Gemüse und die hohe Grillkunst – und Restaurants aufsperren, so gut, wie sie in ihrer Heimat derzeit mitunter nicht mehr möglich sind.

Gutes Essen hat sich immer wieder als äußerst wirkungsvolles Mittel zur Integration erwiesen.

Was für die Alltagsküche gilt, ist mindestens genauso für das Spitzenrestaurant gültig: kaum ein Sternerestaurant, in dessen Küche nicht mehrere Sprachen gesprochen werden. Im legendären »Noma«, dem wohl berühmtesten Restaurant der Welt in Kopenhagen (übrigens von dem albanischstämmigen René Redzepi gegründet), ist man stolz darauf, Mitarbeiter aus Dutzenden verschiedenen Ländern zu haben.
Wie etwa in der Wissenschaft gibt es auch in der hohen Kochkunst Spitzenleistung nur dank internationaler Kooperation, dem freien Austausch von Gütern, Menschen und Ideen.
Wie gut es in der Branche ist, in mehr als einer Welt zu Hause zu sein, zeigt sich auch an den vielen erfolgreichen Gastronomen mit Multikulti-Wurzeln: Attila Dogudan, in Istanbul geboren, in Wien groß geworden, ist heute Chef eines weltweiten Restaurant-Imperiums; Duc Ngo, geborener Vietnamese, hat wie kaum ein anderer in den vergangenen Jahren Berlins Restaurantszene aufgemischt; der gebürtige Schweizer Daniel Humm ist heute Chef des Dreisterners »Eleven Madison Park«, das bereits zum besten Restaurant der Welt gewählt worden ist – und das sind nur ein paar Beispiele von sehr, sehr vielen.
Was einem Gastgewerbe ohne Gastarbeitern droht, kann man gerade schön in London beobachten. Der Stadt, die derzeit noch eine der spannendsten Gastroszenen der Welt beheimatet, droht dank Brexit ein Exodus an Restaurant-Fachkräften und Gastronomen. Sie zittern vor strengeren Einreise- und Arbeitsbestimmungen. Berlin, Wien und andere Städte mit Willkommenskultur werden davon wohl profitieren.

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Nur, weil einem etwas schmeckt, heißt das noch lange nicht, dass man den Koch zum Nachbarn haben will. Dennoch: Gutes Essen hat sich immer wieder in der Geschichte als äußerst wirkungsvolles Mittel zur Integration erwiesen. Italienische Küche, lange die Migrantenküche schlechthin, wird heute weltweit geliebt und ist im Luxussegment angekommen. Die chinesische und die Thai-Küche sind beide auf dem besten Weg dorthin. Und das alles, obwohl alle drei Küchen (und ihre Köche und Esser) für Jahrzehnte, teils sogar Jahrhunderte mit vielen Vorurteilen zu kämpfen hatten. Dem Ansehen der jeweiligen Menschen aus diesen Ländern hat das ganz bestimmt nicht geschadet.
Wie so oft, gilt aber auch beim Essen: Wer Erfolg haben will, muss sich anpassen. Chinarestaurants haben Europa nicht mit dem Essen erobert, das in China serviert wird, sondern mit einer Variante, die auf die Bedürfnisse der Einheimischen Rücksicht nimmt. Das Gleiche gilt für Italiener: Was in italienischen Restaurants von San Francisco bis Tokio serviert wird, hat mit der Küche Neapels, Bolognas oder Roms oft wenig zu tun. Jetzt aber, wo diese drei Esskulturen global etabliert sind, ist langsam auch Platz für regionale Küche wie im Herkunftsland.
Oft ist kulinarische Integration so erfolgreich, dass das einst Fremde zum Ureigenen wird: Hamburger, Hotdogs und Doughnuts brachten deutsche Immigranten im 19. Jahrhundert in die USA, heute gelten sie als ur-amerikanisch. Und die »Wiener Küche« ist überhaupt eine Mischkulanz aus halb Osteuropa und Italien: Sie verdankt sich der letzten großen »Überfremdung« der Stadt, als um 1900 Menschen aus allen Teilen der Habsburgermonarchie nach Wien kamen.
Auch gutes Essen kann nichts daran ändern, dass Menschen überall und immer dem und den Fremden zunächst eher skeptisch gegenüberstehen – es kann aber helfen, diese Skepsis zu überwinden. Da trifft es sich sehr gut, dass Menschen, die gern gut essen und trinken und kochen, meist die angenehmeren Zeitgenossen sind. Ganz egal, wo sie herkommen.

Erschienen in
Falstaff Nr. 03/2019

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Tobias Müller
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