Blick aus der Bensheimer Lage Paulus ins Tal

Blick aus der Bensheimer Lage Paulus ins Tal
Deutsches Weininstitut

Hessische Bergstraße: Goldene Generation

In den letzten Jahrzehnten war es recht still um die Hessische Bergstraße, Deutschlands kleinstes Anbaugebiet. Doch jetzt machen junge Winzer von sich reden: Mit ihrem Talent und ihrer Schaffenskraft verändern sie von Grund auf den Ruf der Region.

Der Wind pfeift bitterkalt in diesem Weinberg, und Schneeflocken wehen Julien Meissner ins Gesicht, während der Betriebsleiter des Weinguts Schloss Schönberg ein paar Granitsteine aus dem gefrorenen Boden pult. »Die Besonderheit an diesem Granit ist, dass man ihn mit dem Fingernagel spalten kann«, erklärt Meissner. Wirklich, schon mit leichtem Hebeln lassen sich feine Plättchen aus dem bräunlich-grauen bis ockerfarbenen Gestein lösen. Die Lage Fürsten­lager im Weiler Auerbach ist gerade dabei, zu einem Hotspot des qualitativ hochwertigen Weinbaus an der Hessischen Berg­straße zu werden. Denn die Kühle, die an diesem Ort vom Odenwald her Richtung Rhein­ebene strömt, ist in den Sommern im Zeichen des Klimawandels hoch willkommen: »Hier steht man auch im Sommer morgens noch mit dem Pulli, während man ein, zwei Kilometer Luftlinie entfernt in der geschützten Lage Höllberg schon im T-Shirt arbeitet.«

Meissner ist seit 2019 Betriebsleiter auf diesem Schwesterbetrieb des bereits etwas bekannteren Sekthauses Griesel. Von den 33 Hektar, die Meissner bewirtschaftet, geht knapp die Hälfte der Ernte an Griesel – vor allem Riesling und Pinot Noir, aber auch Weißburgunder und Chardonnay. Das Investment der Unternehmerfamilie Streit, 2013 mit Griesel begonnen und 2016 mit Schönberg fortgesetzt, hat zwei alte Freunde zusammengeführt: Denn Meissner lebte während des Weinbaustudiums in Neustadt in der Pfalz mit Griesel-Betriebsleiter Niko Brandner in einer Wohngemeinschaft. Beide waren auf Umwegen zum Wein gekommen: Meissner hatte erst BWL studiert, Brandner war ­Banker. Die zweite Berufswahl war für beide die richtige, und beide gaben richtig Gas. Während Meissner unter anderem auf der Domaine Dujac in Burgund gearbeitet hatte und dann einige Jahre beim Ingelheimer Weingut J. Neus Burgunder vinifizierte, spezialisierte sich Brandner in der Cham­pagne und bei den Stars des deutschen Sekt­wunders wie bei Volker Raumland.

Sekt vom Granit

Am Betriebssitz von Griesel Sekt lädt Niko Brandner zu einem Rundgang durch das Gebäude. »Als die ehemalige Staatsdomäne Bergstraße zum Verkauf stand, griff Familie Streit zu. Das Gebäude und die Keller waren komplett ausgeräumt.« Brandner öffnet die Tür zur guten Stube des Haupthauses: »Bis auf diesen Kachelofen hier.« Der Ofen in leuchtendem Lindgrün spendete Griesel Sekt seine optische Corporate Identity – man findet den Farbton auf den Etiketten des Hauses. Der Name Griesel wiederum stammt von der Bezeichnung des Bensheimer Stadtviertels, in dem das Weingut liegt, abgeleitet vom bröckeligen, sandigen »Grus«, zu dem Granitsteine zerfallen.

Julien Meissner im Keller des Weinguts Schloss Schönberg – Meissner und sein Weinbergteam um Rabea Trautmann bewirtschaften auch die Weinberge für das Sekthaus Griesel.
Foto bereitgestellt
Julien Meissner im Keller des Weinguts Schloss Schönberg – Meissner und sein Weinbergteam um Rabea Trautmann bewirtschaften auch die Weinberge für das Sekthaus Griesel.

»Als ich 2013 anfing, hier Sekt zu ­machen, war noch fast alles improvisiert. Ich war noch ganz alleine und habe jeden Arbeitsschritt selbst gemacht.« Die ersten 12.000 Flaschen Sekt, die auf diese Weise zustande kamen, schickten bei ihrem ersten Erscheinen am Markt zwei, drei Jahre später geradezu Schockwellen durch die deutsche Sektszene: So knackig, so radikal geradeaus und bissig mineralisch hatte man deutschen Sekt noch nie gekostet. Das war der Beginn einer furiosen Erfolgsgeschichte, die auch zehn Jahre nach ihrem Beginn immer noch weitere Pointen bereithält. »Mir selbst war zum Beispiel am Anfang gar nicht bewusst«, sagt Brandner, »wie großartig sich Granitböden für die Erzeugung von Sektgrundwein eignen.«

 

Mir selbst war zum Beispiel am Anfang gar nicht bewusst, wie großartig sich Granitböden für die Erzeugung von Sektgrundwein eignen.

 

Der erste Lagensekt (mit der Bezeichnung »Granit F« – »F« wie »Fürstenlager«) stammt aus 2016. Andere neue Cuvées liegen noch undegorgiert im Keller oder entstehen gerade erst im Kopf. Derzeit produziert Brandner mit einem kleinen, eingeschworenen Team das Zehnfache der anfänglichen Flaschenanzahl. Doch er will gar nicht exponentiell weiterwachsen, sondern qualitativ (noch) besser werden: So hat er inzwischen einen Stock an Reserveweinen für noch komplexere Cuvées aufgebaut, und er pflegt sogar eine Solera mit Riesling-Grundweinen. Diese aus der Sherryproduktion stammende und in der Champagne als »Réserve perpetuelle« bekannte Technik beruht auf einem Jahrgangsverschnitt: Jährlich wird etwas Wein aus dem Solera-Gebinde entnommen und wieder mit frischem Wein aufgefüllt. So wird der im Fass liegende Wein im Lauf der Jahre immer vielschichtiger – und spielt immer raffinierter mit Reife und Frische.

Im Schatten des Rheingaus

Das Investment der Familie Streit in die Hessische Bergstraße kam zu einem Zeitpunkt, als man überregional kaum noch von dem Gebiet Notiz nahm. Lange Jahre war das Weingut Simon-Bürkle in Zwingenberg der einzige Erzeuger, dessen Weinen man auch einmal andernorts begegnen konnte. Johannes Bürkle, der das Weingut 2013 seit dem Tod seines Vaters führt, hat ebenfalls an vielen Stellschrauben gedreht, um qualitativ noch besser zu werden: Schlechtere Weinberge wurden abgegeben und durch bessere ersetzt, die Handlese findet jetzt in kleineren Kistchen statt, und Bürkle ist dazu übergegangen, die Trauben vor dem Keltern zu kühlen: »Den Most kriegt man viel schwerer gekühlt«, hat er festgestellt. Gerade für die Bukettsorten, die einer der Schwerpunkte des Weinguts sind, sei das ein großer Vorteil, sagt Bürkle, und auch für den Riesling. Dabei zupft sich Bürkle sein Käppi mit dem Schriftzug »Bergstraße« zurecht.

An Bewusstsein für die einzigartigen ­Bedingungen der Bergstraße fehlt es den Winzern also nicht, ihr Unglück ist eher, dass sie im Bundesland Hessen unweigerlich vom alles dominierenden Rheingau überstrahlt werden. Und auch die geografisch nähere Nachbarschaft ist mächtig: im Süden Baden, im Westen Rheinhessen und die Pfalz. »Tourismusmäßig sind wir der weiße Fleck, wenn man es zum Beispiel mit der Pfalz vergleicht«, sagt der 27-jährige Sebastian Jäger, der gemeinsam mit Vater Michael im Probenraum des Weinguts der Stadt Bensheim Platz genommen hat. Im Jahr 2021 hat die Familie, die zuvor schon sechs Hektar Reben bewirtschaftet hatte, das städtische Weingut mit seinen zwölf Hektar übernommen.

 

Tourismusmäßig sind wir der weiße Fleck, wenn man es zum Beispiel mit der Pfalz vergleicht.

 

Der Probenraum mit einer Batterie von Hirschgeweihen an der Wand atmet die Stimmung der Fünfzigerjahre, auch die Lage des Gebäudes mitten im Ort und an einer Durchgangsstraße ist eher suboptimal: »Wenn im Herbst die Traktoren stehen und man bis nachts um zwölf keltert, dann sind Konflikte vorprogrammiert.« Wenn Lkw be- oder entladen werden, müsse der Stapler immer den Gehweg kreuzen – bei aller Vorsicht bleibt ein mulmiges Gefühl. Also hat die Familie Pläne: Weingut und Vinothek sollen an einem anderen Ort außerhalb des Ortskerns neu gebaut werden. »Ich hoffe, dass wir dieses Jahr die Baugenehmigung kriegen und im Herbst 2025 am neuen Ort keltern können«, sagt Michael Jäger.

Das typische sanfte Hügelprofil am Saum des Odenwalds, hier in den Weinbergen des Weinguts Simon-Bürkle.
Foto bereitgestellt
Das typische sanfte Hügelprofil am Saum des Odenwalds, hier in den Weinbergen des Weinguts Simon-Bürkle.

Junior Sebastian, der unter anderem bei Kruger-Rumpf an der Nahe und bei Alois Lageder in Südtirol gearbeitet hat, entwirft derweil den künftigen Weinstil: »2023 haben wir den Ertrag einer ganzen Reihe von Weinbergen spontan vergoren – alle separat –, um zu prüfen, welche der Lagen das Zeug zum Einzellagenwein hätten.« Diese Kelterungen lägen teils sogar noch auf der Volllhefe, berichtet Sebastian Jäger.

Sie nehmen sich Zeit beim Ausbau der Weine, die Jungen an der Hessischen Berg­straße. Bei der Neupositionierung ihres Gebiets aber machen sie mächtig Tempo. Wohin sie diese Qualitätsdynamik noch führt, darauf darf man wirklich gespannt sein.

DIE HESSISCHE BERGSTRASSE AUF EINEN BLICK

Größe: 462 Hektar (2022)

Durchschnittsertrag im Gebiet:
(2010–2022) 69 hl/ha

Qualitativ wichtigste Rebsorten: Riesling, Grauburgunder (weiß), Spätburgunder (rot)

Verhältnis weiß zu rot: 79 Prozent weiße Trauben, 21 Prozent rote Trauben

Klima: Die Jahresdurchschnittstemperatur liegt (für die Station Bensheim) bei 11,1 Grad Celsius, die Sonne scheint an durchschnittlich 1.696 Stunden pro Jahr, die Niederschläge liegen im langjährigen Mittel bei 763 Millimetern (alle Angaben für den Zeitraum 1991–2020)

Relief und Höhe: Trotz des Namens

»Bergstraße« liegt das Gebiet nur in moderater Höhe zwischen 110 und 270 Metern. Ein sanftes Hügelrelief dominiert, Steillagen findet man am Heppenheimer Steinkopf und in der Zwingenberger Lage Alte Burg.

Geologie: Die meisten Weinberge liegen in der Vorzone des Odenwalds auf kristallinen Grundgesteinen, Granit und Granodiorit, überlagert von grusigem, teils flachgründigem Verwitterungsboden, vielerorts auch von Flugsand und mehr oder weniger mächtigem Löss. In Heppenheim findet sich Buntsandstein, in Umstadt östlich von Darmstadt Porphyr.

Geschichte: Bereits die Römer errichteten eine «strata montana», eine gepflasterte «Berg-straße» als Verbindung der Neckarmündung bis in den Darmstädter Raum. Weinbau ist in Urkunden des Klosters Lorsch erstmals im achten Jahrhundert erwähnt. Als eigenständiges Anbaugebiet existiert die Hessische Bergstraße erst seit der Reform des Weinrechts 1971 – zuvor waren die Weinberge gemeinsam mit denen der Badischen Bergstraße als Anbaugebiet »Bergstraße« zusammengefasst. Da im Zug des neuen Weinrechts keine Anbaugebiete entstehen sollten, die in unterschiedlichen Bundesländern liegen, wurde die Hessische Bergstraße abgetrennt und, da eine Zusammenlegung mit dem Rheingau nicht sinnvoll schien, als eigenständiges Anbaugebiet geschaffen.


NICHTS MEHR VERPASSEN!

Melden Sie sich jetzt für unseren Newsletter an.

Ulrich Sautter
Ulrich Sautter
Wein-Chefredakteur Deutschland
Mehr zum Thema