Der Einsatz von Stickstoff wurde zum Sinnbild der Molekularküche. Plötzlich wollte jeder bessere Hüttenwirt seine Gäste mit den spektakulären Stickstoffschwaden beeindrucken.

Der Einsatz von Stickstoff wurde zum Sinnbild der Molekularküche. Plötzlich wollte jeder bessere Hüttenwirt seine Gäste mit den spektakulären Stickstoffschwaden beeindrucken.
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In Stickstoff aufgelöst: Molekularküche

Was wurde eigentlich aus der Molekularküche? Und was hat sie gebracht? Wer sind die Erben dieser einst so populären, aber auch umstrittenen Küchenrevolution, die sich zwischenzeitlich von Spanien über die ganze Welt ausgebreitet hat? So viele Fragen. Wir haben die Antworten.

Gerichte der etwas anderen Art: Tannensprösslinge auf Eishonigwürfel, vakuumierte Champignons in Haselnussöl, sich selbst auflösende Ravioli, gefüllt mit Pinienkernpralinen. Eine Auster auf Passionsfrucht-Jelly und Lavendel. Eine Senf-Eiscreme mit Rotkraut-Gazpacho, dazu Bonbons von der Entenstopfleber mit Karamell, hernach ein flüssiger Steinpilz­snack oder ein geeister Dauerlutscher von roten Rüben mit Joghurt.

Klingt alles ziemlich verrückt. Wie aus einem kulinarischen Absurditäten-Kabinett, in dem ein der Welt entrückter Koch alles zusammenmischt, was ihm unter die Finger kommt. Und doch gehörten solch seltsam anmutende Schöpfungen lange Zeit zum Alltag der sogenannten Molekular­köche, die in den 1990er-Jahren die ­kulinarische Welt verändern und auch den saturiertesten Esser verblüffen sollten. Es war eine Zeit, in der eine neue Spezies von Köchen sich von allem Herkömmlichen verabschiedete und stattdessen an Gummibärchen mit Kaviargeschmack versuchte.

Als Galionsfigur dieser sogenannten »Küchenrevolution« stellte sich damals der Spanier Ferran Adrià in die erste Reihe. Er zerlegte in seinem inzwischen geschlossenen Restaurant »El Bulli« in einer abgelegenen Bucht der Costa Brava, was er in seiner Küche vorfand, um es anschließend wieder neu zusammenzusetzen. Er pumpte Tomaten auf, bis sie platzten – was übrig blieb, verarbeitete er zu Schaum. Er ent­wickelte Ravioli, die sich am Gaumen selbst dekonstruierten, weil sie buchstäblich auf der Zunge zerschmolzen. Adrià und ein ganzes Heer von Schülern waren damals Postmoderne. Nichts war ihnen heilig. Wie etwas zu munden hat, wurde analytisch hinterfragt, küchentechnische Grundregeln auf den Kopf gestellt. ­Gekocht wurde wie in einem Chemielabor, chemische und physikalische Prozesse waren plötzlich viel wichtiger als die Grundregeln traditioneller, europäischer Kochkunst.

Juan Amador traf schon sehr früh den Vater der Molekularküche, Ferran Adrià. Daraus entstanden Gerichte wie »geeister Beurre-Blanc-Royal-Caviar mit Haselnussmilch«.
© Lukas Kirchgasser
Juan Amador traf schon sehr früh den Vater der Molekularküche, Ferran Adrià. Daraus entstanden Gerichte wie »geeister Beurre-Blanc-Royal-Caviar mit Haselnussmilch«.

Amador im El Bulli

Einer, der damals von der Molekular-küche fasziniert war, ist Juan Amador, ein deutscher Ausnahmekoch mit spanischen Wurzeln, der heute in Wien das einzige Drei-Sterne-Restaurant Österreichs führt. Davor wurde er in Deutschland zu einem der populärsten Molekularköche Europas. Wie es dazu kam, erzählt er im Originalton so: »Es war 1996, ich ein Küchenchef in Deutschland, ein Stern, 17 Punkte, drei Hauben, alles super. Ich fahr’ nach Spanien und lese in einem Bericht was über das ›El Bulli‹, zwei Sterne, irgendwo am Arsch der Welt. Hab’ sofort angerufen und einen Tisch bestellt. Damals kein Problem. Ich bin also dort, esse was, stehe auf und sage ›Ich kann nicht kochen. Tut mir leid. Was ich mache, hat mit Kochen nichts zu tun‹ und gehe.«

Es war ein Treffen, das das Leben von Juan Amador und seine Art, zu kochen, von Grund auf veränderte. Heute gilt Amador längst nicht mehr als »Molekularkoch«. Er hat seinen persönlichen Küchenstil neuerlich verändert, Elemente der Molekular-küche sind nur noch spärlich vorhanden. Was der Deutsch-Spanier und Wahlösterreicher heute kocht, hat mit seiner »wilden Laborzeit« nur noch wenig zu tun.

Die Molekularküche gab es allerdings in gewisser Weise schon vor Ferran Adrià und seinem legendären Restaurant »El Bulli«. Bereits 1969 hielt Nicholas Kurti, ein Physiker mit Hang zu populären Themen, vor der Londoner Royal Society einen Vortrag. Titel: »The physicist in the kitchen«. Es ging also um den Einfluss der Physik auf das Kochen. Dabei stellte der Vortragende die Frage: »Wieso wissen wir alles über die Temperatur im Inneren eines Sterns, aber so gut wie nichts über die Temperatur im Inneren eines Soufflés?« Fazit: »Die richtig angewandte Physik kann die Kochkunst verändern.«

Auch so können spanische Tapas der etwas anderen Art aussehen.
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Auch so können spanische Tapas der etwas anderen Art aussehen.

El Bullis Ende

Es dauerte allerdings noch viele Jahre, bis es so weit war. Erst als der französische Physiko-Chemiker Hervé This 1992 auf
Sizilien das erste internationale Arbeitstreffen über molekulare und physikalische Gastronomie organisierte, wurde der Begriff »Molekularküche« nachhaltig in die Welt gesetzt. Mit dabei bei dem Treffen: Ferran Adrià und die französischen Star-köche Pierre Gagnaire und Michel Bras.

Das ehemalige »El Bulli« wurde danach zum Epizentrum der Molekular-küche und vom Guide Michelin regelmäßig mit der Höchstwertung von drei Sternen ausgezeichnet. Ganze fünf Mal wurde das Lokal im Rahmen der »The World’s 50 Best Restaurants« auf Platz eins gewählt. Einen Tisch im »El Bulli« zu bekommen, war jahrelang so begehrt und rar wie ein Lottosechser. 2011 wurde es dann geschlossen.

Das Erbe des legendären und sicherlich auch außergewöhnlichsten Restaurants Europas übernahm danach Adriàs sieben Jahre jüngerer Bruder Albert. Er brachte es in der Zeit nach dem »El Bulli« immerhin auf fünf Restaurants im angesagten Viertel Parallel in Barcelona, drei davon bekamen zwischenzeitlich einen Michelin-Stern. Albert, der als Konditor angefangen hatte, gilt dabei als wesentlich bodenständiger als sein berühmter Bruder.

Auch wenn die Molekularküche längst an Bedeutung verloren hat, sorgte der auch heftig umstrittene Küchentrend zumindest einige Zeit für Aufsehen. Plötzlich wollte jeder auch noch so entlegene Hüttenwirt in Stickstoff gekühlte Eisbällchen servieren. Die Ergebnisse waren zuweilen katastrophal.

Dennoch hat der Trend vor allem in Spanien viele Spitzenköche beeinflusst. Etwa die Roca-Brüder mit ihrem Restaurant »El Celler de can Roca« oder die Drei-Sterne-Köchin Elena Arzak und den Küchenchef Andoni Luis Aduriz (Restaurant »Mugaritz« in Errentería unweit von San Sebastián). Aber auch der Italiener Massimo Bottura in seiner mehrmals zur Nummer eins der Welt gewählten »Osteria Francescana« in Modena kocht noch heute mit Elementen der Molekularküche. Der Begriff aber wird kaum noch verwendet, der Trend hat sich ob der vielen Absur-ditäten mehr oder weniger in Luft oder, besser gesagt, in Stickstoff aufgelöst.

Auferstehung

Und was macht Ferran Adrià, der »Picasso der Kulinarik«, heute? Er will sein einst geschlossenes »El Bulli« wieder aufsperren – allerdings nicht als Restaurant, sondern als Ausstellung und Labor. Auf insgesamt 5000 Quadratmetern soll mit dem »elBulli 1846« ein Ausstellungszentrum entstehen, ein »Museum der Innovation« – dank einer Investition von immerhin rund zehn Millionen Euro. Die Zahl im neuen Namen sei laut Adrià eine Hommage an Auguste Escoffier, den »König der Köche, Koch der Könige», der 1846 geboren wurde und als Pionier der Haute Cuisine gilt.

Über die Eröffnung des neuen Aus-stellungszentrums spricht Adrià seit 2014. Es soll nicht zuletzt auch ein Ort werden, der das Erbe des »El Bulli« und damit der Molekularküche bewahrt.

Geplant ist die Auferstehung übrigens im Jahr 2023.


Erschienen in
Falstaff Nr. 04/2022

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Herbert Hacker
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