Die Brauerei White Frontier in Martigny gehört zu den Aufsteigern der Schweizer Bierszene.

Die Brauerei White Frontier in Martigny gehört zu den Aufsteigern der Schweizer Bierszene.
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Schweiz: Kleines Land, grosse Braukultur

Fast 1'300 Bierbrauereien gibt es in der kleinen Schweiz. Gemessen an der Einwohnerzahl führt das zu einer der grössten Brauereidichten weltweit. Gut für Bier-Geeks im Land: Zur nächsten Brauereibesichtigung, Bierbar oder Biertour ist es nie weit.

Kühl und blond – so war das Schweizer Bier viele Jahre. Von 1935 bis 1991 war die Schweizer Brauereilandschaft vom Bierkartell geprägt, das den Markt umfassend regulierte. 1985 gab es gerade mal 34 registrierte Brauereien in der Schweiz, die den Markt unter sich aufteilten. Ihre Biere schmeckten alle ziemlich identisch – kühl und blond eben; an Marketing, Innovation oder gar Export war nicht zu denken. Als das Kartell Anfang der 90er-Jahre wegfiel, startete der Boom der Kleinbrauereien – 2014 gab es 483 Brauereien in der Schweiz, 2017 bereits 869 und heute sind es rund 1300. Rekordverdächtig!

Nachhaltige Brauszene

Mit der Zahl der Brauereien wuchs auch die Zahl der Biere, der Stile und Geschmacksrichtungen in der Schweiz. Die Experimentierfreudigkeit der Brauerinnen und Brauer war und ist unaufhaltbar – und das lange nicht nur bei den Kleinbrauereien. Zu den Aushängeschildern der modernen Schweizer Brauereien gehört unter anderem die Brauerei Locher, insbesondere bekannt für das Appenzeller-Bier Quöllfrisch und die Whisky-Linie Säntis Malt. Das Unternehmen befindet sich im malerischen Ort Appenzell am Fusse des Alpsteins inmitten der intakten, hügeligen Appenzeller Natur. Fast schon logisch, dass die Brauerei sich nicht nur mit Innovationen im Bierbereich, sondern insbesondere auch im Bereich Nachhaltigkeit beschäftigt.

1996 lancierte sie als erste überhaupt ein mit der Knospe von Bio-Suisse zertifiziertes Bier. Heute ist ihr Engagement im Bereich Nachhaltigkeit vielfältig: Wann immer möglich werden regionale Rohstoffe verwendet, man betreibt eine eigene Biogasanlage, und jedes Korn, das für die Bierproduktion eingesetzt wird, wird mehrfach genutzt. So werden nicht nur die in der Schweiz bekannten Kabier-Rinder mit dem Treber der Brauerei Locher gefüttert, es werden daraus auch «Tschipps» oder Pizzaböden hergestellt und unter eigener Marke vertrieben. Den besten Einblick in das innovative Unternehmen erlangt man bei einem Besuch vor Ort. Erst kürzlich eröffnete in Appenzell das neue Besucherzentrum «Brauqöll», wo die Brauerei und ihre Produkte umfassend entdeckt werden können.

Auch wenn die Brauerei Locher mittlerweile tatsächlich ein empfehlenswertes IPA im Sortiment führt, sind die meisten Kreationen des Hauses eher dem klassischen Spektrum zuzuordnen. Freakige, moderne Craftbiere nach amerikanischem Vorbild findet man in der Schweiz dennoch zuhauf. Um diese Welt zu entdecken, lohnt sich ein Besuch in einer der hiesigen auf Bier spezialisierten Bars. Eine der besten Adressen hierfür ist sicherlich die «International Beer Bar» im Herzen Zürichs, die eine breite Auswahl an Schweizer und internationalen Bieren führt. Wer in Basel weilt, sollte einerseits das «Bierrevier» ­besuchen – das Lokal verfügt über 40 Offenbiere und bietet gesamthaft 500 verschiedene Etiketten an –, andererseits sollte man einen Abstecher ins «Restaurant Fischerstube» machen.

Bei Letz­terem handelt es sich um das wohl älteste Brew Pub der Schweiz. Bereits seit 1974 wird in dem kleinen Lokal das hauseigene Ueli Bier gebraut. Klar, dass das Lokal bei der beliebten Basler Biertour nicht fehlen darf. Biertouren wie in Basel werden in verschiedenen Schweizer Städten angeboten. Bei diesen taucht man den Bierkosmos eines einzelnen Ortes ein. So etwa auch in Bern, das sich mit seinen rund 200 Brauereien und Mikrobrauereien mit gutem Recht als Bierhauptstadt bezeichnet.

Bierbars für Geeks

Bierfreaks mit internationalem Gaumen kommen in der Schweiz aber nicht nur in den Metropolen des Landes auf ihre  Kosten. Zu den Stars der Szene gehört etwa die Brauerei White Frontier in Martigny im Wallis. Die Gegend ist eigentlich eher für alpinen Weinbau als für Bier bekannt, und vielleicht ­genau darum ist das 2014 ­gegründete Unternehmen derart erfolgreich. Die Brauerei befindet sich in einem Gebäude im Industriegebiet von Martigny, das zuvor für die Weinher­stellung benutzt wurde. Beim Marketing kooperiert sie mit Wintersportlern, Freeridern und anderen freiheitsliebenden Persönlichkeiten. Neben einigen dauerhaft erhältlichen Bieren bringt das Unternehmen jedes Quartal vier neue, limitierte Kreationen auf den Markt. Die Biere von White Frontier sind mittlerweile in der ganzen Schweiz zu finden, das ganze Spektrum lässt sich aber am besten vor Ort verkosten. Der Taproom und Biergarten inmitten der Walliser Berge bietet eine einzigartige Atmosphäre – zudem kann die wenige Meter entfernte Brauerei bei Führungen entdeckt werden.

Bier von hier

Wer sich dem Schweizer Bier von der Quelle her nähern will, sollte einen Besuch in Stammheim im Zürcher Weinland einplanen. Das Stammertal gehört zu den wenigen Hopfenanbaugebieten der Schweiz. Auf dem Hopfenhof «Hopfentropfen» erfährt man einerseits mehr über den Anbau des für den Biertrinker essenziellen Gewächses, andererseits können Bierbraukurse, kulinarische Erlebnisse und natürlich Verkostungen gebucht werden. Das Bier des Betriebs von Familie Reutimann in seiner dunkelblauen Flasche geniesst in der Region Kultstatus, ist darüber hinaus aber eher wenig bekannt. Dieses Schicksal teilt das Stammheimer Bier mit vielen anderen Schweizer Bieren, denn die wenigsten werden flächendeckend vermarktet. Gut also, dass es in der Schweiz auch im abgelegensten Tal noch jemanden gibt, der selbst Bier braut.

Im Puschlav bzw. der Valposchiavo, einem italienischsprachigen Tal im Süden der Schweiz, leben gerade mal 4'500 Menschen. Auf diese entfallen neben vier Bäckereien, vier Metzgereien, sechs Winzern, zwei Kräuterproduzenten, einer Käserei und einer Pastafabrik auch zwei Brauereien. Die Brauerei Pacifich produziert vier ganzjährig erhältliche und vier saisonale Spezialitäten, während die Birraria Poschiavina sich auf zwei Hauptbiere beschränkt: Na Bira, was übersetzt «ein Bier» bedeutet, und La Bira, was «das Bier» heisst. La Bira wird mit lokalem Roggen gebraut und trägt daher das Label 100 % Valposchiavo – welches Produkten vorbehalten ist, die ausschliesslich aus Rohstoffen der Region hergestellt werden. Regionalität und Nachhaltigkeit spielen in dem Bergtal eine besondere Rolle, das zeigen auch die Zahlen: Rund 95 Prozent der landwirtschaftlich genutzten Flächen in der Valposchiavo sind heute bereits biozertifiziert – schweiz-, ja weltweit ein absolutes Alleinstellungsmerkmal.


Benjamin Herzog
Benjamin Herzog
Chefredaktion Schweiz
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