Modern und stylisch: die Bodegas Marqués de Riscal in Elciego, erbaut vom Architekten des Guggenheim Museums in Bilbao, Frank O. Gehry.

Modern und stylisch: die Bodegas Marqués de Riscal in Elciego, erbaut vom Architekten des Guggenheim Museums in Bilbao, Frank O. Gehry.
© Eric Cuvellier

Rioja Reloaded

Tradition und Moderne, Burgund und Bordeaux – Spaniens Rotwein-Eldorado Rioja steht wie kaum eine andere Weinbauregion im Spannungsfeld gegensätzlicher Einflüsse. Nun kommt noch eine andere Richtung hinzu: Die Weine einer neuen Generation passen in keine Schublade – und sind vielleicht deshalb typischer Rioja denn je.

Über Nacht ist Schnee gefallen in der Sierra Cantabria. Weiß leuchtet das Bergmassiv unter dem blauen Himmel fast bis auf die Höhe der Weinberge hinab, die sich als Flickenteppich von Terrassen und Hängen in alle Himmelsrichtungen ausdehnen. Es ist Ende Februar, die Morgenluft ist kühl, doch schon die ers­ten Sonnenstrahlen haben den Frost vertrieben. Friedlich liegt das Dorf El Villar auf einer Erhebung in der Vorbergzone des Gebirges, mit Macht überragt von einer trutzigen Steinkirche mit Turm und auffällig hohem Kirchenschiff. David Sampedro Gil tritt aus der Türe seines Hauses vis-à-vis des Gotteshauses und hält zwei Flaschen Wein in seiner Rechten, wendet seinen Schritt, geht über eine Rampe abwärts, um unten vom Hof den Keller aufzuschließen. Das Licht fällt auf Fässer und rudimentäres Werkzeug zum Weinmachen. »Hier keltere ich seit 2003 meinen eigenen Wein«, sagt der 38-Jährige. »Irgendwann möchte ich auch mal größere Fässer als diese 500-Liter-Halbstücke anschaffen, richtige ­Fuder – aber momentan reicht das Geld ­dafür nicht.«
Sampedro Gil ist ein Exot in Rioja: Fünf Hektar Reben bewirtschaftet er. Fast nichts aus der Perspektive einer Region, in der manche Betriebe vierstellige Hektargröße erreichen. Diese Seite seiner Heimat kennt der junge Önologe ebenfalls: Nach dem Studium arbeitete er einige Zeit für eine große Bodega, ehe er sich selbstständig machte – und der Biodynamik zuwandte. Der Start in die Selbstständigkeit war gut vorbereitet: Schon 1999 legte Sampedro Gil in einer Südlage 35 Ar mit der Rebsorte Graciano an. Graciano, das ist im Spektrum der vier roten Rioja-Sorten die Nummer vier: eigentlich unentbehrlich als Säurereserve, aber im Anbau eine Diva. Und in vielen Betrieben verschwunden. »›Der wird doch nie reif!‹, sagten mir die Nachbarn. Und sie haben natürlich recht mit ihrer Behauptung, wenn man ­einen Riesenertrag erwartet.« Dann zieht Sampedro Gil den Korken aus einer Flasche »Phinca Abajera«, Jahrgang 2010: eine Kelterung, in der der Ertrag genau dieses Graciano-Weinbergs enthalten ist, zusammen mit demjenigen einer hal­ben Hektare Mischsatz, den Sampedro Gils Großvater 1929 angelegt hatte, bestockt mit etwa zwei Dritteln Tempranillo, etwas Garnacha und rund 15 Prozent weißen Trauben. Die kühle Frische dieses Weins und die Präg­nanz, mit der er die Mineralität der Kalkböden ins Glas bringt, fügen dem gewohnten Bild des Rioja einen neuen, bisher unbekannten Aspekt hinzu.

David Sampedro Gil zählt zu einer neuen Weinmacher-Generation in Rioja.
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David Sampedro Gil zählt zu einer neuen Weinmacher-Generation in Rioja.

Im Spannungsfeld

In der letzten Dekade wurde Rioja oft entlang des Gegensatzes von traditionellen und modernen Weinen verhandelt. Auf der einen Seite die Produzenten von Reserva- und Gran-Reserva-Qualitäten, die ihre Weine jahrelang in Barriques aus amerikanischer Eiche reifen und mürb werden ließen. Auf der anderen Seite die Adepten eines internationalen Stils, die auf einen zeitlich begrenzten Ausbau in französischer Eiche setzten. Doch die Debatte um den Gegensatz scheint inzwischen an Bedeutung verloren zu haben, oder vielmehr: Sie ist entschieden. Denn selbst die meisten als Reserva und Gran Reserva etikettierten Weine folgen der modernen Blaupause. Die Gründe dafür sind nicht immer stilistischer Art: Eine authentische Gran Reserva muss sechs-, acht- oder zehnmal von Hand umgezogen werden, ehe sie als klarer Wein unfiltriert abgefüllt werden kann. Das kostet Zeit und Geld.
Und so lassen sich die im alten Stil gehaltenen Gran Reservas fast an einer Hand abzählen: López de Heredia Viña Tondonia und Viña Bosconia verdienen es, mit ihren Weinen als Erste genannt zu werden, dann Muga mit »Prado Enea«, La Rioja Alta mit ihren Gran Reservas 904 und 890 – und auch eine im Ausland wenig bekannte Bodega, Hermanos Peciña in San Vicente de la Sonsierra, produziert solche Weine in Reinkultur. Gegründet 1992 von einem ehemaligen Mitarbeiter von Rioja Alta SA, weisen die Peciña-Weine eine große Ähnlichkeit mit dem bekannten Namen aus Haro auf. Schon C.V.N.E.s »Imperial« oder Marqués de Murrietas »Castillo Ygay« – wiewohl wahre Klassiker – haben inzwischen einen stärkeren Drall zum Motiv der Frische. Die meisten Gran-Reserva-Weine von namhaften Gütern definieren sich vor allem durch Dichte und Extraktreichtum: Sie betonen ­das »Gran« und führen die Bezeichnung »Reserva« eher gewohnheitshalber im Namen. Von weniger guten Erzeugern kann man auch Gran-Reserva-Weine ins Glas bekommen, ­die beides vermissen lassen: die Größe und die Reife.

Auf nur fünf Hektaren Rebfläche baut David Sampredo Gil seinen Wein an.
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Auf nur fünf Hektaren Rebfläche baut David Sampredo Gil seinen Wein an.

Riojas Weg in die Zukunft

»Wenn man Gran Reservas so produziert wie López de Heredia: wunderbar. Aber im Gro­ßen und Ganzen hat die Qualitätspyramide von Crianza bis Gran Reserva ihre Berechtigung völlig verloren.« Der, der das sagt, etikettierte bislang alle seine Weine als Cosecha, als einfachen Jahrgangswein – und seit dem Jahrgang 2015 verzichtet er ganz auf die Bezeichnung »Rioja«: Juan Carlos López de Lacalle vom Weingut Artadi. Dass er kein Provokateur um des Selbstzwecks willen ist, belegen seine mit faszinierendem stilistischem Feingefühl bereiteten Lagenweine, die zu den mineralischsten Weinen der Region gehören – und die mit die höchs­ten Preise erzielen. Dabei ist der Weg, den Artadi in den letzten zwanzig Jahren genommen hat, seinerseits eine elitäre Zuspitzung – mit ebenso wenig Anziehungskraft auf die Mitte des Marktes, wie sie authentische Gran Reservas haben. Das Projekt Artadi entstand aus einer Genossenschaft heraus. Mit dem Etikett »Pagos Viejos«, einer Kelterung von Reben alter Parzellen, machte López de Lacalle Mitte der 1990er-Jahre Furore. Inzwischen sind nur noch zwei der damaligen Traubenlieferanten übrig geblieben, und Artadi bewirtschaftet die meisten Weinberge selbst. Die »Pagos Viejos« gibt es immer noch, und die Weinberge, deren Erträge für diesen Wein verwendet werden, sind immer noch mindestens fünfzig Jahre alt. Doch die Trauben der besten Parzellen der »Pagos Viejos« der Anfangsjahre füllt López de Lacalle heute als eigenständige Lagenkelterungen ab: den subtilen Wein der Ostlage Valdegines, den mächtigen La Poza (von einer Westlage mit tiefgründigem Boden), den mineralischen El Carretil und den in jedem Aspekt kompletten El Pison.
Differenzierung könnte das Motto für den Rioja-Weinbau der Zukunft sein, zumindest an der Spitze. »Die Frage ist heute nicht mehr: traditionell oder modern«, so López de Lacalle – und mit Nachdruck in seinem liebenswert spanisch akzentuierten Englisch: »The question is: industrial or real wines?« Und dann schlägt er einen Ausflug in den Keller vor, in dem er neuerdings seine Crus reifen lässt. Denn im funktionalen Neubau am Ortsrand von Laguardia werden nur noch die Weine ohne Lagenbezeichnung ausgebaut. Die Crus reifen in einem alten Gemäuer mitten in der Altstadt. Acht Meter tief steigt man Treppen hinab in einen Gewölbekeller, der auf einer Seite von jenem Gestein begrenzt wird, auf dem die mittelalterliche Stadt erbaut wurde. López de Lacalle leuchtet mit einer ­Taschenlampe auf ein Wandthermometer: ­­»11 Grad!« Und mit Begeisterung setzt er nach: »Wenn es im Sommer draußen sehr heiß ist, dann sind hier unten vielleicht ­12 oder 13 Grad – höchstens!«

Große Tradition und ebenso große Kellerkapazitäten: Marqués de Riscal.
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Große Tradition und ebenso große Kellerkapazitäten: Marqués de Riscal.

Neues, kleinräumigeres Herkunftsdenken

Es ist vor allem der baskische Teil der Rioja, in dem dieses geradezu burgundisch anmutende Denken die Oberhand gewinnt. Bekanntlich gliedert sich die Rioja in drei Teilbereiche: die heiße Rioja Baja mit ihren Sandböden, in der vor allem einfachere Weine entstehen. Die beiden höher angesehenen Regionen Rioja Alta und Alavesa – letztere baskisch – werden vor allem durch eine admi­nistrative Grenze getrennt. Bei den Böden herrscht in beiden Gebieten derselbe Zweiklang: Nahe des Ebro dominieren steinige, meist rot gefärbte Alluvialböden, auf den Hügeln wachsen die Reben auf Kalkgestein. Der Tendenz nach hat Rioja Alavesa etwas mehr Kalk, Rioja Alta wiederum das atlantischere Klima. In der Rioja Alavesa fängt die nahe gelegene Sierra Cantabria die garstigen Nordwinde ab, dafür reichen die Weinberge höher hinauf und erreichen bei Remelluri ­sogar die 800-Meter-Grenze. Am höchsten Punkt des früheren Klosterguts bepflanzte ­Telmo Rodríguez schon vor dreißig Jahren ­einen Weinberg mit weißen Sorten.
Dabei ist Remelluri heute das beste Beispiel für das neue, kleinräumigere Herkunftsdenken in Rioja: Seitdem die Geschwister Amaia und Telmo den Betrieb leiten, wird der Ertrag weiter entfernt liegender Weinberge unter der Bezeichnung »Lindes de Remelluri« und der zusätzlichen Angabe des Ortsnamens abgefüllt. Wo »Remelluri« auf dem Etikett steht, stammt der Wein aus der direkten Umgebung des historischen Guts. Der Liebe zum Detail haben sich auch Maite Fernández Mendoza und Abel Mendoza Monge verschrieben. Auf seinem 20-Hektaren- Weingut in San Vicente de la Sonsierra keltert das Ehepaar unter anderem einen Roten nach Art der früheren bäuerlichen Tradition: im Verfahren der Macération carbonique.
Wie ein guter Beaujolais-Cru besitzt dieser floral duftende, fruchtige Tinto hinter seiner trinkfreudigen Anmutung beträchtliche Tiefe und Komplexität. 38 Parzellen bewirtschaftet Abel Mendoza Monge, Maite Fernández Mendoza kümmert sich um den Keller. »Als wir uns kennenlernten, hatte ich nichts mit Wein zu tun, ich war in der PR-Branche tätig. Niemand in meiner Familie besitzt Reben«, sagt Maite Fernández Mendoza. »Doch als ich Abel kennenlernte, kam der Wunsch auf, mich beim Wein auszukennen.« Maite studierte Önologie und gehört heute mit ihren Weinen zur Speerspitze der neuen Rioja. Die Lorbeeren jedoch reicht sie weiter: »Mein Abel ist ein echter Winzer, der die natürliche Art zu arbeiten respektiert.« So sehr dieses Bild der Rioja an Burgund erinnert – das große historische Vorbild ist Bordeaux. Schließlich erlebte der rote Rioja seine gloriose Zeit, als Ende des 19. Jahrhunderts die Reblaus in Bordeaux einfiel und die Weinhändler auf der Suche nach Ersatz am Ebro fündig wurden. Schon zuvor, in den 1850er-Jahren, hatte Marqués de Riscal die Bordelaiser Methode des Fassausbaus nach Rioja gebracht. Dieser Bezug ist nie abgerissen. Kein Geringerer als der große Bordelaiser Önologe Émile Peynaud half in den 1970er-Jahren, den Marken-Rioja Marqués de Cáceres aufzubauen. Und bei Telmo Rodríguez arbeitet mit ­Emmanuel Guiot der vormalige Kellermeister von Château Cos d’Estournel.

Karte des Rioja-Gebiets
© Bianca Tschaikner
Karte des Rioja-Gebiets

Keine einfache Zeit in Spanien

In Haros berühmtem Bahnhofsviertel wartet Julio César López de Heredia vor dem Jugenstilbau der Bodega in seinem Land Rover Defender, um zu einer Spritztour durch den Weinberg Tondonia aufzubrechen. Sein Ur­großvater Rafael, ein Einwanderer aus Chile, hatte diesen von einem Ebro-Mäander umschlossenen Weinberg vor dem Ersten Weltkrieg erworben – 120 Hektaren an einem Stück. Schon während der Offroader zwei, drei Kilometer entfernt über den ersten Weinbergweg holpert, versteht man, was Don Rafael begeistert haben muss: Steine, so weit das Auge reicht. Beinahe ein Anblick, wie ihn die Kiesdünen des Médoc bieten. Auf engstem Raum gibt es Hänge, Westlagen, ­Südlagen, Ostlagen, ein Hochplateau, roten Lehm, wieder Steine und unter allem Kalk. Julio César López de Heredia hält kurz darauf an, um etwas zu erklären: Acht bis zehn Jahre lang liegen Parzellen brach, wenn eine Anlage gerodet wurde. Neuanpflanzungen erfolgen stets in der alten Form der Buschreben. Das Wichtigste seien aber die alten Reben.
»Alte Reben und ein gesunder Boden – dann regelt sich alles von selbst.« An einer Stelle des Weinbergs reift ein riesiger Berg Kompost. Bio oder Biodynamik sind hier keine Themen, weil die Familie die traditionelle Form der Landwirtschaft gar nie verlassen hat. Zur Lese werden noch immer kleine Bütten aus Pappelholz eingesetzt. »Die Trauben werden darin schonender trans­portiert als in Plastikkisten. Außerdem nützen uns die im Holz befindlichen Hefestämme bei der Vergärung.« Die minimalistische Kellertechnik bei ­López de Heredia ist legendär: keine Additive, keine Schönungen, aber viel Zeit. Und Handarbeit: Sechzig Angestellte beschäftigt der Betrieb für eine Jahresproduktion von 600.000 Flaschen.
An Tondonias höchstem Punkt parkiert ­López de Heredia. »Don Rafael hatte den Plan, an dieser Stelle ein Château zu errichten. Im Familienarchiv haben wir Baupläne für ein Castillo im arabischen Stil gefunden. Aber dann kam der Erste Weltkrieg. Meine Schwestern und ich sind nun die vierte Generation. Vielleicht wendet sich die fünfte Generation wieder diesem Plan zu.« Julio César, Mercedes und Maria José López de Heredia entschlossen sich nämlich vor einigen Jahren, einem anderen Projekt den Vorzug zu geben: In Flussnähe haben sie begonnen, ein Gebäude mit Unterkünften für die Saisonarbeiter zu errichten. Derzeit ruht die Arbeit – denn die bereits verlegten Kupferkabel, die das Gebäude ans Stromnetz des Nachbarorts Briñas hätten anschließen sollen, wurden in einer Nacht-und-Nebel-Aktion gestohlen. »Es ist keine einfache Zeit in Spanien«, sagt Julio César López de Heredia – und blickt nachdenklich. Wer möchte ihm da ­widersprechen? Und doch bleibt La Rioja nicht stehen – ebenso wenig wie das Wasser des majestätisch dahingleitenden Ebro.
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Aus dem Falstaff Magazin 04/2016.

Ulrich Sautter
Ulrich Sautter
Wein-Chefredakteur Deutschland
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