© Shutterstock

Wien: Stadt der Symbiose

Das Geheimnis der Anziehungskraft, die Wien auf Gäste und Einwohner gleichermaßen ausübt, liegt in der fruchtbaren Symbiose aus Vergangenheit und Zukunft. Viel ihrer Kraft, zu neuen Ufern aufzubrechen, bezieht
die Stadt aus der Rückbesinnung auf ihre Traditionen.

Wien leuchtet. Aus Tausenden von Lichtern glitzert und funkelt die Stadt. Ein Vorhang aus Licht liegt über dem Häusermeer, erhellt Straßen und Plätze, einzelne Gebäude erstrahlen im Schein zahlreicher Scheinwerfer, die ihren Fassaden spezielle Akzente aus Hell und Dunkel verleihen. Ein seltsamer Zauber legt sich an solchen Abenden über die Metropole, erlaubt einem magischen Lebensgefühl, sich im gesamten urbanen Raum auszubreiten. Man befindet sich in einer weltoffenen und lebensfrohen Stadt, in der sich die Einwohner ebenso wie neugierige Besucher durch das Geschehen treiben lassen, sie ausgeschwärmt und scheinbar ganz dem Augenblick hingegeben sind, um die flüchtigen Stunden einer Nacht mit allen ihren Sinnen in sich aufzunehmen. Erfüllt von einem vielsprachigen Stimmengewirr gelingt es Wien in solchen Situationen, eine einzigartige Anziehungskraft zu entwickeln, die Jung und Alt in ihren Bann schlägt und die Stadt als einen idealen Ort des Verweilens erscheinen lässt. Wenn sich dann die Nacht langsam dem Morgen zuneigt, wenn sich die letzten Nachtschwärmer auf ihren Heimweg begeben, weicht die Ausgelassenheit häufig einer ermatteten Zufriedenheit, die in eine kurze Frist der Erholung mündet, in der Wien neue Kräfte für sein alltägliches, großstädtisches Treiben sammelt, das alsbald die ganze Metropole wieder mit geschäftigen Aktivitäten erfassen wird.

Große Städte haben sich in der Vergangenheit in gewaltige urbane Maschinen verwandelt, welche eine stete Betriebsamkeit vorantreiben, gleichzeitig aber die einzelnen Bewohner zu Rädchen degradiert haben, die sich nach Belieben austauschen lassen und sie dadurch in einer anonymen Masse verschwinden lässt. Zahlreiche Millionenmetropolen haben in diesem Prozess ihre Seele verloren und sind, einige lokale Eigenständigkeiten ausgenommen, zu austauschbaren Aufbewahrungsorten ihrer häufig wie zufällig zusammengewürfelten Bewohner geworden.

Wie in vielen anderen Aspekten stellt Wien auch in dieser Hinsicht einen großen Ausnahmefall dar. Es ist der Stadt durch alle Wirren und Verwerfungen der Zeitläufe gelungen, ihre eigenständige Identität zu bewahren, diese stets mit neuen, der Zeit angepassten Inhalten zu füllen und dennoch ihrem traditionellen Wesenskern die Treue zu bewahren.

© Shutterstock

Im Laufe ihrer Geschichte hat die Stadt zahlreiche Rollen erfüllt, diese immer wieder verloren und neue gewonnen. Die in vielerlei Hinsicht traumverlorene zentrale Residenzstadt einer zentraleuropäischen Vielvölkermonarchie war über Nacht als der hypertrophe Wasserkopf eines überlebensverzagten Kleinstaates erwacht. Neue demokratische politische Kräfte nutzten allerdings den Zusammenbruch zu der Chance, Wien zum Exerzierfeld eines gewagten Experiments in einem sozialen Zukunftslabor umzugestalten. Es war aufgrund ebenso äußerer Widerstände wie auch interner Widersprüche zum Scheitern verurteilt. Allerdings genügten eineinhalb Jahrzehnte, Spuren zu hinterlassen, die bis heute eine prägende Wirkung behalten haben. Eine Zeit lang schien es daraufhin, als habe sich Wien selbst aufgegeben und wäre fremdbestimmt, aber sehenden Auges dem Untergang in der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges entgegengewankt. Nur mühsam regenerierte sich das einstige Zentrum eines europäischen Großraums, das nun in die provinzielle Randlage der neuen geopolitischen Machtblöcke abgedrängt war.

Es scheint heute nur schwer nachzuvollziehen, welch gewaltige Transformation sich in der Stadt in den vergangenen drei Jahrzehnten vollzogen hat. Die Erinnerung an die trüben Jahre in einer grauen, zu einem großen Teil zertrümmerten Stadt sind fast vollkommen verblasst. Wien ist auf einen Zukunftskurs eingeschwenkt, den es dank mutiger Kraftanstrengungen zielstrebig verfolgt.

© Shutterstock

Regelmäßig wird Wien in internationalen Befragungen zu einer der, wenn nicht sogar der lebenswertesten Metropole der Welt gekürt. Das verdankt die Stadt allerdings nicht alleine einer kommunalen Verwaltung, die auf allen Ebenen reibungslos funktioniert und sich als Serviceeinrichtung für die Bürger versteht, sondern auch dem kommunalpolitischen Konzept einer zukunftsorientierten Millionenmetropole.

Wahrscheinlich verbirgt sich das Geheimnis der einzigartigen Anziehungskraft, die Wien ausübt, in der fruchtbaren Symbiose, die Vergangenheit und Zukunft in der Stadt miteinander eingegangen sind. Viel ihrer Kraft, zu neuen Ufern aufzubrechen, bezieht sie aus der Rückbesinnung auf ihre Traditionen. An allen Ecken begegnet man in Wien den steinernen Zeugen der Geschichte. Sie wurden oft mit großem öffentlichem Aufwand nicht nur gepflegt, sondern durch neue Funktionen als lebendige Orte fortgeführt. Dadurch entging Wien der Gefahr, in einem Freilichtmuseum zu erstarren, der so viele europäische Städte, die ähnlich mit Historie getränkt sind, erlagen.

Nach über hundert durchaus wechselvollen Jahren ist es Wien gelungen, fast nahtlos an seine glanzvolle Periode der Ringstraßen-­Epoche und dem Aufstieg zu einer der führenden Metropolen des Fin de Siècle anzuschließen. Gleichzeitig konnten dank einer umsichtigen kommunalen Planung die Fehler, die damals durch die Entstehung sozialer Ghettos und Elendsreviere den Glanz der Gründerzeit trübten, vermieden werden. Im Unterschied zu den meisten Großstädten existieren in Wien heute keine ausgeprägten Problemviertel, in denen sich Parallelwelten entwickeln konnten. Auch das ist ein Ergebnis der Symbiose zwischen Vergangenheit und Zukunft. Wien besitzt seit den Tagen der kaiserlichen Residenzstadt eine große traditionelle Kraft, Zuwanderer aus unterschiedlichen Kulturkreisen zu integrieren. Und Wien versteht sich seit je als Ort der Begegnung, an dem sich die unterschiedlichen Interessen letztlich in einer neuen Mixtur auflösen. Das beseelt die Wiener Kraft, ihre einzigartige Unverwechselbarkeit auch in Zukunft zu bewahren.


NICHTS MEHR VERPASSEN!

Melden Sie sich jetzt für unseren Newsletter an.

Erschienen in
Falstaff Wien Special

Zum Magazin

Joachim Riedl
Mehr zum Thema