«Zeig mir, wie du isst und ich sage dir, wer du sein möchtest.»

«Zeig mir, wie du isst und ich sage dir, wer du sein möchtest.»
© Honey & Bunny | Ulrike Köb | Daisuke Akita

Gesucht: Eine nachhaltige Esskultur

Wie wir essen sagt viel darüber aus, als was wir uns sehen. Dabei zählen Status-Gedanken oft mehr als schlichte Vernunft. Das Künstler-Duo Honey & Bunny thematisiert die Ambivalenz unseres Verhaltens beim Kochen und Essen – und schreibt darüber ab sofort exklusiv im Falstaff.

Die Corona-Pandemie veränderte auch das Bestellen. Vor dem Lockdown stand in einem Wirts- oder Kaffeehaus eine (meistens) freundliche Person vor den Gästen und schrieb auf, was man wollte. Schmähführen inklusive. Dann kam der Lieferservice: überlastete Websites, wieder ein neues Passwort, lange Lieferzeiten, überforderte, aber unterbezahlte Fahrer und der alltägliche Marsch zu den Mistkübeln.

Die Take-Away-Kultur

Take-away wurde zur eigenen Kultur innerhalb unserer Esskultur. Dazu gehört in Einwegflaschen abgefülltes Wasser, aufwändig verpackte Gerichte, Salate und Saucen, dazu dicke Stapel von Papierservietten. Wer sich Essen nach Hause liefern lässt, bekommt eine Unmenge an Müll gratis dazu. Besteck, Teller, Servietten – die gesamte Tableware-Ausstattung ist nach einem einzigen Abendessen zum Wegwerfen. Nicht selten sind unter den Verpackungen auch solche aus Kunststoff, Aluminium oder Styropor – eigentlich Sondermüll. Die europäische Tischkultur des 21. Jahrhunderts ist eine Wegwerfkultur. Heute wird Status und Wohlstand nicht mehr durch teures Material oder eine aufwändige Fertigung von Tellern, Gläsern und Besteck angezeigt, sondern die unendliche Verfügbarkeit immer neuen Essgeschirrs. Reiche Gesellschaften drücken sich als solche aus, indem sie ihre Tableware nur ein einziges Mal benutzen und nach jeder Mahlzeit entsorgen. Früher war diese Form des Verhaltens bei Tisch dem Hochadel oder dem Papst vorbehalten oder wurde als Glück bringendes Ritual bei besonderen Anlässen wie Hochzeiten praktiziert.

Wegwerfgeschirr oder für jeden neuen Gang ein eigenes Besteck? Die Absurditäten unserer Esskultur sind an beiden Enden der Skala zu sehen. Was (noch) fehlt, ist ein neuer Zugang zu diesem Thema.
© Honey & Bunny | Ulrike Köb | Daisuke Akita
Wegwerfgeschirr oder für jeden neuen Gang ein eigenes Besteck? Die Absurditäten unserer Esskultur sind an beiden Enden der Skala zu sehen. Was (noch) fehlt, ist ein neuer Zugang zu diesem Thema.

Derzeit gehen Industriegesellschaften – nicht nur beim Essen – eher sorglos mit Ressourcen und dem Erhalt der Biosphäre um. Die meisten westlichen Gesellschaften sind Konsumkulturen. Geschirr nur ein einziges Mal zu benutzen und danch wegzuwerfen, ist Normalität. Einwegservietten sind ebenso Standard wie Frühstücksbuffets in Hotels, die oft 40 und mehr Prozent «Food Waste»-Anteil haben und dennoch von Gästen als Selbstverständlichkeit erwartet werden. Wie Essen serviert und verzehrt wird und welche Tischwerkzeuge dabei zum Einsatz kommen, ist eine Frage der jeweiligen Esskultur – hat aber auch Auswirkungen auf den Zustand unseres Planeten. Mit dem (kurzen) Gebrauch eines Wegwerfbechers, einer Papierserviette oder einer PET-Flasche verschwenden wir Ressourcen und verbrennen fossile Energie. Wenig später landen diese kleinen Behälter im Müll.

Die Gestaltung der Tafelkultur trägt entscheidend dazu bei, wie nachhaltig eine Mahlzeit ist. Unseren Energie- und Ressourcenverbrauch steuern wir nicht nur durch die Auswahl und die Zubereitung unserer Nahrung, sondern auch bei Tisch. Es macht einen Unterschied, ob wir uns für oder gegen Wegwerfprodukte, für oder gegen ein neues Gedeck nach jedem Gang entscheiden. Braucht jeder Wein ein neues Glas? Auch Geschirrspülmaschinen verschwenden Energie, Wasser und Geld. Die Wiederverwendung von Besteck oder Geschirr im Rahmen eines eleganten Essens wiederspricht heute den geltenden Regeln von Höflichkeit und Gastfreundschaft. Brauchen wir vielleicht neue Tischsitten im Sinne von Geschirr-Recycling und Second-Course-Cutlery? Könnte es zukünftig nicht sogar ganz selbstverständlich sein, dass jede und jeder nicht nur das Handy, sondern auch das eigene Besteck ständig mit sich führt, genauso wie viele bereits heute ihre eigene befüllbare Wasserflasche bei sich tragen?

© Honey & Bunny | Ulrike Köb | Daisuke Akita

Der Bauer als Trendsetter

Insgesamt ist unsere heutige Tischkultur von einem hohen Einsatz an unterschiedlichen Objekten und Werkzeugen geprägt. Sie entwickelte sich etwa ab dem 18. Jahrhundert gemeinsam mit dem Bürgertum, welches die Tischsitten des Adels kopierte, die wiederum dazu dienten, Reichtum und Status zum Ausdruck zu bringen. Später nutzten Hersteller und Unternehmen die repräsentative Ausrichtung der Tischkultur, um den Absatzmarkt zu vergrössern. Und sie verfestigten die Vorstellung von einer Tischkultur, die von einer Vielzahl an unterschiedlichen Objekten bestimmt wird. In Folge profitieren auch Industrialisierung und Massenproduktion von einer Tischkultur, die nicht primär vom Gedanken an die Funktion, sondern vor allem von jenem an den Status getragen wird. Wohingegen die bäuerliche Tischkultur, die mit deutlich weniger Objekten auskommt (Motto: Alle essen mit dem eigenen Löffel aus der gemeinsamen Schüssel), teilweise bis heute als unkultiviert, ungehobelt und damit als minderwertig gilt, weil sie mit (vermeintlich) mangelnder Hygiene, Armut oder einem niedrigen Sozialstatus verbunden wird. Doch die Notwendigkeit einer neuen Esskultur angesichts von Klimawandel und Umweltproblemen erfordert eine Neubewertung des bürgerlichen Konzepts, Nahrung zu sich zu nehmen.

Eine Sache der Einstellung

Mit der Esskultur übersetzen wir unsere politischen Einstellungen in faktische Handlungen. Die Aufnahme der täglichen Kalorien ist nicht nur eine Frage von Tradition und Etikette, sondern auch eine der Lebenseinstellung und Denkweise. Da wir beim Essen grundsätzlich nicht rational handeln (wir essen zum Beispiel vieles, von dem wir wissen, dass es ungesund ist oder dick macht), sondern anderen Prinzipien (zum Beispiel Gefühlen, Gewohnheiten, Kultur, Tradition, Werten etc.) folgen, muss Nachhaltigkeit beim Essen auch entsprechend kulturell eingebettet sein, um zu funktionieren. Es geht also nicht darum, unser Essen, sondern auch unsere Esskultur nachhaltig zu machen. Denn die Regeln und Rituale rund um unser Essen sind nur sehr bedingt von der Natur oder von der Wirtschaft vorgegeben, sondern gestaltbar.


© Honey & Bunny | Ulrike Köb | Daisuke Akita

Honey & Bunny
Sonja Stummerer und Martin Hablesreiter studierten Architektur. Während eines Arbeitsaufenthalts in Tokio begannen sie sich für Food Design zu interessieren, seither gestalten und kuratieren sie Ausstellungen und Filme, realisieren Eat-Art-Performances und schreiben bzw. illustrieren Bücher.


Sonja Stummerer
Martin Hablesreiter
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