Rasmus Munk bezeichnet seine Kreationen nicht als Speisen, sondern als »Impressions«: Eindruck machen sie allemal. Beim »Tongue Kiss« (links oben) dürfen die Gäste das Topping etwa direkt von einer täuschend echten Silikon-Zunge lecken.

Rasmus Munk bezeichnet seine Kreationen nicht als Speisen, sondern als »Impressions«: Eindruck machen sie allemal. Beim »Tongue Kiss« (links oben) dürfen die Gäste das Topping etwa direkt von einer täuschend echten Silikon-Zunge lecken.
© Søren Gammelmark / gammelmarkphoto, Jens Honoré

Rasmus Munk: Der Meister des großen Auftritts

Der Däne Rasmus Munk ist mit seinem bahnbrechenden Restaurant »Alchemist« an der Weltspitze angekommen: zwei Sterne, Platz fünf bei den »50 Best« und eine fünfstellige Warteliste für Gäste. Jetzt hat er noch ein kulinarisches Forschungszentrum gegründet – und ist gerade einmal 33 Jahre alt.

Lammhirn in Kirschsoße, eine Banane wie aus einem Pop-Art-Bild von Andy Warhol, Kaisergranat in Pralinenform und dehydriertes Fischbouillon, das wie Plastikfolie aussieht: Auf den Tellern im Restaurant »Alchemist« ist nichts, wie es scheint. Hinter dem einmaligen Konzept steckt Rasmus Munk, der mit Anfang dreißig zu Dänemarks erfolgreichsten Küchenchefs zählt – ein Meister der Illusion und Innovation.

Rasmus Munk wurde 1991 in Randers ­geboren. Diese 64.000 Einwohner starke Hafenstadt in Ost-Jütland ist heute vor allem für »Memphis Mansion« bekannt, das einzige fixe Elvis-Museum außerhalb der USA. Für seine Eltern – eine Krankenschwester und einen Fernfahrer – spielten weder Essen noch Kultur eine wichtige Rolle:

Was sich im Kühlschrank befand, war nicht wichtig, und freitags gingen wir regelmäßig zu McDonald’s. ­Im Theater oder in einem Kunstmuseum waren wir nicht.

Das einzige Kulturerlebnis, an das sich der Koch erinnere, sei ein Besuch im Kopenhagener Wissenschaftsmuseum Experimentarium, dessen Kuppel als Vorlage für jene in ­seinem Restaurant diente.

Gemeinsam mit seinem Team sorgt Rasmus Munk für ein echtes kulinarisches Erlebnis weitab jeder Fine-Dining-Konvention.
© Søren Gammelmark / gammelmarkphoto
Gemeinsam mit seinem Team sorgt Rasmus Munk für ein echtes kulinarisches Erlebnis weitab jeder Fine-Dining-Konvention.

Grenzgänger

Eigentlich wollte Rasmus Munk Mechaniker oder Polizist werden, schloss sich dann aber einem Freund an, der sich zum Koch ausbilden ließ. Während der Lehrjahre in seiner Heimatregion nahm er an zahlreichen Kochwettbewerben teil. 2012 zog er nach London, um im einsternigen »North Road« zu kochen, blieb jedoch aufgrund der harten Umgangsformen hinter den Kulissen nicht lange. Das Intermezzo in britischen Spitzenküchen verhalf ihm stattdessen zur Stelle als Küchenchef im »Treetop«, dem Hotelrestaurant des dänischen Waldresorts »Munkebjerg«. Dort kochte er für Gastronomiekritiker und Feinschmecker und durchschaute bald die Erfolgsformel der neuen nordischen Küche: »Man besorgt sich schönes handgetöpfertes Geschirr und geht in den Wald, um ein paar Kräuter ­pflücken.«

Nach zwei Jahren war Munk bereit, über die Grenzen des Bekannten hinauszugehen und seine eigene Gaststätte zu gründen: »Ich wollte ein Restaurant schaffen, mit dem man etwas bewirkt und Essen zur Kommunikation nutzt.« Und das tut er nun seit 2015: Mit nur 24 Jahren eröffnete er damals das »Alchemist«.

Nach zwei Jahren im Zentrum der ­dänischen Hauptstadt zog Rasmus Munk mit seinem Lokal ins aufstrebende Viertel Refshaleøen um und sperrte 2019 an der heutigen Adresse auf: in einer ehemaligen Werft, Wand an Wand mit dem 2018 eröffneten zeitgenössischen Kunstzentrum »Copenhagen Contemporary«. Dort erfüllt er sich den Traum von einer »Holistic Cuisine«, die er in einem Manifest beschreibt.

Serviert werden Gerichte mit sprechenden Namen wie »Hunger«.
© Claes Bech Poulsen
Serviert werden Gerichte mit sprechenden Namen wie »Hunger«.

 Die »ganzheitliche Küche« soll alle fünf Sinne ansprechen, beim Gast Gefühle wecken, die Vorstellung vom Essen auf innovative Weise hinterfragen, sich an der Debatte über soziale und ethische Probleme beteiligen, nachhaltig sein sowie Elemente aus Theater, Kunst, Wissenschaft und Technologie aufgreifen. Im neuen Lokal mit 2.000 Quadratmetern hat das Restaurant genug Platz, um seinen hohen Ansprüchen gerecht zu werden. Auf die Gäste wartet dann auch ein wahrhaft theatralisches Erlebnis mit rund 50 Gängen – pardon: »Eindrücken«. Diese essbaren Kunstwerke werden abwechselnd poetisch, skurril und minimalistisch dargereicht. Da gibt es eine zarte Hibiskusblüte aus dem Kombucha-Pilz Scoby (»Scoby Bloom«) – und beim »Tongue Kiss« wird das Topping von der Nachbildung einer menschlichen Zunge aus Silikon geleckt. Ein Getränk mit aus Quallen gewonnener Biolumineszenz leuchtet in der Dunkelheit.

Nur sieben Monate nach der Neueröffnung sorgte der Guide Michelin für einige Überraschung, als er das »Alchemist« direkt mit zwei Sternen in seine Nord­europa-Ausgabe aufnahm. »Ein Abend im ›Alchemist‹ hat nichts mit einem Dinner in einem traditionellen Restaurant zu tun«, sagt ­Rasmus Munk. »Weil sich das Erlebnis so stark von anderen Spitzenrestaurants unterscheidet, war ich mir von Anfang an des Risikos bewusst, dass uns Gourmetführer wie der Guide Michelin ganz ausschließen könnten. Umso dankbarer bin ich dafür, dass man erkannt hat, dass ein kulinarisches Erlebnis auf neue und unkonven­tionelle Weise angegangen werden kann.«

Mehrere Akte

Eine Sitzung im »Alchemist« dauert vier bis sechs Stunden und ist in mehrere Akte unterteilt. Den Auftakt macht der Bereich »New York«, eine bunte Installation der Streetart-Künstlerin Lady Aiko, die auf den Einfluss von Einwanderern auf die kulinarische Szene ihrer neuen Heimat hinweist. Danach geht es in die Lounge, wo die Gäste nicht nur in die Küche, sondern auch ins mehrstöckige Weinlager blicken, das 10.000 Flaschen umfasst. Der Hauptakt spielt sich im »The Dome« ab: Über dem Speisesaal mit schlangenartig aufgestellten Tischen wölbt sich die namensgebende Kuppel mit einem Durchmesser von 18 Metern, an der im Laufe des Menüs Videos über riesige Bildschirme flackern. Mal wähnt man sich unterm Sternenhimmel mit Nordlichtern, mal unter Wasser, umgeben von Quallen und Plastiksackerln. »Wenn den Gästen alles an dem Erlebnis gefällt, dann haben wir unseren Job nicht richtig gemacht«, sagt Rasmus Munk. »Wir wollen ihnen Denkstoff bieten, ohne eine Meinung aufzudrängen. Jeder kann seine eigenen Schlüsse ziehen.«

Munks innovativer Zugang zur Kochkunst kommt jedoch nicht nur den Gästen des »Alchemist« zugute, sondern auch den Obdachlosen in Kopenhagen. Während der Corona-Pandemie, als das Restaurant monatelang zusperren musste, rief er die NGO »JunkFood« ins Leben, die sich dazu verpflichtet, täglich 300 Menschen von der Straße eine warme Mahlzeit zu bieten. Die Gerichte werden teilweise aus überschüssigen Zutaten hergestellt, wovon wöchentlich etwa eine Tonne gespendet wird. Am Nachmittag liefern Freiwillige das Essen an Herbergen und Notunterkünfte aus, damit Bedürftige am Abend etwas Warmes bekommen. Seit der Gründung hat »JunkFood« schon über 425.000 Portionen zur Verfügung gestellt. 

Neues Forschungszentrum

Rasmus Munk testet die Grenzen dessen aus, was mit Essen möglich ist. Mit dem Schwerpunkt auf gastronomischer Entwicklung und Innovation arbeitet er bereits mit mehreren führenden Universitäten und zukunftsorientierten Unternehmen zusammen. Mit vereintem gastronomischen und wissenschaftlichen Know-how und vor allem einer großen Portion Kreativität werden neue Lebensmittel und Technologien entwickelt.

Um Forschung in Eigenregie betreiben zu können, hat Munk Ende 2023 ein neues Mammutprojekt lanciert: ein globales kulinarisches Forschungszentrum namens »Spora« in Kopenhagen, nur einen Steinwurf vom »Alchemist« entfernt. Damit will er Pionierarbeit mit nachhaltigen Lebensmitteln betreiben. Diese sollen nicht nur leistbar, schmackhaft und lokal angebaut sein, sondern sich auch positiv auf das Leben von Millionen Menschen auswirken. Derzeit laufen schon Projekte auf der Suche nach einer nachhaltigen Alternative zu Schokolade sowie nach Nutzungsmöglichkeiten für den Schimmelpilz Neurospora intermedia.

»Wenn ich an die Zukunft des Essens denke, sehe ich geteiltes Wissen und Zusammenarbeit zwischen Köchen, Universitäten und Unternehmen in aller Welt«, sagt Rasmus Munk.

Wir haben dieselbe Aufgabe: mit Kreativität neue Lösungen zu finden, um aus der aktuellen Krise herauszukommen und etwas zum Besseren zu verändern.

»Alchemist«


In wenigen Jahren hat sich das »Alchemist« zu einem der begehrtesten Restaurants der Welt entwickelt. Wie die Gerichte und die Umgebung grenzt allerdings auch der Preis für das Spektakel ans Surreale: Bei umgerechnet rund 660 Euro für das Menü sind die Getränke noch nicht enthalten. Trotzdem ist die »Alchemist Experience«, die normalerweise dienstags bis samstags angeboten wird, immer ausgebucht. Man spricht auch nicht von Reservierungen, sondern von Tickets, die etwa drei Monate im Voraus verkauft werden und stets binnen Minuten vergeben sind. Tausende lassen sich auf die Warteliste setzen, um vielleicht doch einmal durch die zwei Tonnen schwere Eisentür treten zu dürfen und unter den 40 Glücklichen zu sein, die pro Abend das kulinarische Theaterstück von Rasmus Munk erleben dürfen. Der Speisesaal ist so angelegt, dass Reservierungen nur für zwei, vier oder sechs Personen vergeben werden.

Refshalevej 173C, 1432 Kopenhagen
T: +45 31 716161, alchemist.dk

Forschungszentrum Spora:
spora.dk


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Erschienen in
Falstaff Nr. 01/2024

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Lisa Arnold
Autor
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