Kreation von Kay Baumgardt aus dem «Incantare» in Heiden. Pure Erdbeere, Gersten-Amazake, Rucola, Mandel-Miso.

Kreation von Kay Baumgardt aus dem «Incantare» in Heiden. Pure Erdbeere, Gersten-Amazake, Rucola, Mandel-Miso.
© Gregory Brunner

Verdammt frech: Die Patisserie der Zukunft

Verbrannte Bananenschale, Schweinebauch, Petersilie, Kopfsalat: Bei den besten Patissiers des Landes stehen ungewöhnliche Produkte hoch im Kurs.

Wenn Kay Baumgardt ein Dessert kreiert, dann knallt es im Mund. Und zwar tüchtig. Kaum eine Zutat, die der 38-jährige Chefpatissier des Restaurants «Incantare» im «Gasthaus zur Fernsicht» in Heiden nicht in eine köstliche Dessertkomponente verwandeln könnte. Die Schalen vollreifer Bananen zum Beispiel lässt er im Ofen bei 180 Grad schwarz werden, um sie später zu einem Pulver zu verarbeiten, das den Bananengeschmack auf ein neues Level hebt. Mit dem Pulver – man schmeckt Kaffee-, Karamell- und Vanillenoten heraus – verfeinert Baumgardt dann eine Kugel aus Bananencreme, die er mit Estragon und Miso kontrastiert. Es ist ein Gericht, das alles hat: beglückende Süsse, Frische, Umami und leichte Salzigkeit. Ein typischer Baumgardt eben.

Und das alles ganz ohne weissen Zucker. Auf den verzichtet der Norddeutsche seit vielen Jahren. Weil er den Eigengeschmack der Zutaten überdecke und ein zeitgemässes Dessert ohnehin viel weniger süss sei als eines aus vergangenen Epochen. Viel lieber intensiviert Baumgardt das Aroma der Zutaten durch Fermentation. Für eine seiner jüngsten Kreationen hat er Zwetschgen aus dem vorletzten Jahr in einen hinreissenden Schaum verwandelt und lässt diesen mit einem Buchweizen-Apfel-Salat und einer Buchweizen-Glace servieren. Ungewöhnlich, aber äusserst stimmig. Und: nur ganz dezent süss.

Neue Techniken

Fermentieren steht auch bei Andy Vorbusch, dem Chefpatissier des Restaurants «Memories» im «Grand Resort Bad Ragaz», hoch im Kurs. Besonders gerne erzeugt der 43-Jährige die Fermentation mithilfe eines Kombucha-­Pilzes, kombiniert ein Holunderblüten-Kombucha-Sorbet mit frisch gepflückten Walderdbeeren oder verwandelt fermentierte, teilweise getrocknete Erdbeeren in eine Konfitüre, die schmeckt, als habe man ein ganzes Erdbeerfeld im Mund, kombiniert mit der punktuellen Säure des Kombuchas und einer cremigen Komplexität.

«Früchte, die man in Kombucha eingelegt hat, geben nicht nur Aroma an die Flüssigkeit ab, sondern entwickeln ein überaus spannendes Geschmacksprofil und eine einzigartige Frische», erklärt der Dessertkünstler seinen Ansatz. Genauso wie die Freude an fermentierten Zutaten verbindet Vorbusch mit seinem Landsmann Baumgardt die Zurückhaltung beim Süssen. Bisweilen verschwimmen im «Memories» die Grenzen zwischen Herzhaftem und Dessert. So etwa beim kandierten und fermentierten Salat mit getrockneter Milch, Kefir-Erbsen-Creme, Milchglace und Gurken-Dill-Granité, einer ebenso harmonischen wie überraschenden Komposition aus dem vergangenen Jahr.

Bei Christian Hümbs im «The Dolder Grand» darf sogar Fleisch in die süsse Kreation – in Form von sous-vide gegartem, leicht karamellisierten Schweinebauch, den der Chefpatissier des Zürcher Luxushotels mit eingelegten Pflaumen, rotem Shiso, Sojasauce und dunkler Schokolade kombiniert. Auch Meeresfrüchte inspirieren den 39-Jährigen, der neben Baumgardt und Vorbusch zu den grossen Attraktionen unter den Patissiers in der Schweiz zählt. Bester Beweis: sein mit weisser Schokolade abgelöschter Kaisergranat mit Gurken-Wasabi-Glace und Tomatenconsommé. 

Essig und Sauerampfer

Simon Unterholzner, der in den beiden «Ecco»-Restaurants der Giardino-Gruppe in Ascona (Sommer) und Champfèr (Winter) für den süssen Abschluss verantwortlich ist, betont die Wichtigkeit der Säure in einem zeitgemässen Dessert. Eine seiner jüngsten Kreationen steht sinnbildlich hierfür: Sorbet und Kompott von der Aprikose treffen auf frische Petersilie, Petersilien-Crumble, Petersilien-Öl, Safran und Joghurt-Yuzu-Creme. «Wer acht Gänge gegessen hat, braucht etwas Belebendes», sagt der 26-Jährige. Und ist sicher: «Die Patisserie der Zukunft wird verdammt frech!» Gleichwohl verliert er auch die klassischen Aromen nicht aus den Augen. Im Dessert «ApfelVanilleMolke» bringt er Apfelsorbet, Apfelessig-­Ganache und Apfelkompott mit einem leicht karamellisierten Molkesud, geeisten Sauerampferperlen sowie einem kleinen Plundergebäck mit einer in Nussbutter confierten, geflämmten Apfelscheibe und Vanillecreme zusammen. Ebenso wichtig wie das sinnlich Wärmende der süsseren Komponenten sind hier natürlich die Säureakzente durch Sorbet, Essig und Sauerampfer.

Nationalheiligtum Schoggi

Und wie ist es in der Schweizer Spitzenpatisserie um das kulinarische Nationalheiligtum Schokolade bestellt? «Sie hat weiter ihren Platz, allerdings in einem kreativen Kontext», sagt Kay Baumgardt. «Weisse Schokolade mit Gurke ist inzwischen fast ein Klassiker, und dass dunkle hervorragend zu Speck passt, können auch Traditionalisten nicht von der Hand weisen.» Der Patissier des Jahres 2020 kombiniert in einem seiner Desserts die mit Ziegenmilch verfeinerte Blüemlisberg-Schokolade von Felchlin mit gereiftem und entsprechend charaktervollem Ziegenkäse. Diesen reibt er mit der Microplane-Raffel ganz fein und in geringer Menge über die Kreation. «Das sorgt für ein überaus intensives Geschmackserlebnis, das aber auch gleich wieder verschwindet und so nicht penetrant wirkt, sondern einfach nur sehr spannend.» Die Schokolade gibt es als aufgeschlagene Ganache, weitere Komponenten neben dem Ziegenkäse sind Apfel, Joghurt und Sanddorn. Simon Unterholzner leitet derweil den Reigen des Süssen im «Ecco»-Menü mit einem Macaron mit karamellisierter weisser Schokolade und roter Johannisbeere ein. Seiner Maxime bleibt er dabei treu: nur nicht zu viel Zucker! Oder in seinen eigenen, nicht ganz ernst gemeinten Worten: «Selbst von meinen Kreationen mit Schokolade bekommt man ganz sicher keine Karies.»

Bean-to-Bar

Auch abseits der Spitzengastronomie läuft in der Schweiz eine Menge in Sachen Schokolade. Kleine handwerkliche Betriebe wie «Garçoa» und «La Flor» in Zürich, «Taucherli» in Adliswil oder «Orfève» in Satigny bei Genf lehnen sich mit ihren Bean-to-Bar-Produkten gegen die Doktrin auf, dass Schokolade made in Switzerland immer zartschmelzend und eher hell sein muss. Ihr Ziel ist es, die Typizität der einzelnen Anbaugebiete und Kakaovarietä­ten herauszuarbeiten. Kay Keusen, international prämierter Inhaber von «Taucherli», provoziert gerne ein wenig und sagt: «Was die grossen Betriebe in der Schweiz herstellen, ist nicht im engeren Sinn Schokolade, sondern eine Süssigkeit.» Besonderes Aufsehen erregte Keusen mit seiner «Ghana 100% Pure»-Schokolade, die nichts anderes als Kakao enthält und im vergangenen Jahr bei den Academy of Chocolate Awards, dem wichtigsten Wettbewerb der Branche, eine Silbermedaille gewann. «Sie besitzt einen überraschend guten Schmelz, geschmacklich erinnert sie an Tonkabohnen und Kokosnuss», umschreibt Keusen seine ungewöhnliche Spezialität.

Freilich beschränkt sich die Schokoladen-Szene nicht auf die grossen Städte. Im luzernischen Escholzmatt, mitten im Entlebuch, hat Amy Wiesner, die Tochter von «Hexer» Stefan Wiesner, ihr Start-up «Amy’s Schokoladen-Werkstatt» gegründet. Wie der berühmte Vater ist sie fasziniert von den Aromen der heimatlichen Natur, bietet eine Wald-Schoggi mit getrockneten Arvennadeln und karamellisierten Arven­nüssen an oder eine Heu-Schoggi mit der Heumischung des Hexers, Joghurt, karamellisiertem Milchpulver und etwas Salz. Wetten, dass aus Kooperationen zwischen solchen Schokoladen-Enthusiasten und Spitzenpatissiers noch manches grossartige Dessert entstehen wird?

Erschienen in
Falstaff Nr. 09/2020

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Alexander Kühn
Autor
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