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Thurgau – vom Apfelland zum Traubenparadies

Der Thurgau gilt als die Heimat der Sorte Müller-Thurgau und als Hochburg der Apéroweine. Die Winzer in dem milden Landstrich bringen jedoch immer öfter elegante, tiefgründige Terroirweine auf die Flasche.

Am 28. Oktober 1850 wurde Hermann Müller in Tägerwilen im Kanton Thurgau geboren. 32 Jahre später kreuzte der Botaniker, Önologe und Rebenzüchter die Sorte Müller-Thurgau, die nach ihm und seiner Heimat benannt ist. Seine Züchtung startete er allerdings nicht in Tägerwilen, sondern einige hundert Kilometer rheinabwärts im deutschen Geisenheim. Die Sämlinge brachte er in die Schweiz mit, doch nach erfolgter Kreuzung war sich Hermann Müller selbst nicht mehr sicher, aus welchen Kreuzungspartnern die Neuzüchtung denn nun entstanden war. Und so wird die Sorte hierzulande bis heute auch als Riesling-Sylvaner betitelt, obwohl es sich in Tat und Wahrheit um eine Kreuzung aus Riesling und Madeleine Royale handelt.

Erst Genanalysen im Jahr 1998 brachten dieses Ergebnis zutage – mehr als 60 Jahre nach Hermann Müllers Tod. Die Verwirrung um die Rebe ist also perfekt, was deren Vorzüge nicht mindert. War sie früher als Massenträger für die Produktion einfacher bis banaler Trinkweine beliebt, bringt sie heute – mit der richtigen Pflege und Mengenbegrenzung – auch Großartiges hervor. Ob Zufall oder nicht: Der Thurgau scheint für die Rebe der ideale Ort zu sein. Das beweist auch die diesjährige Riesling Sylvaner Trophy: Platz 1 und 2 stammen beide aus dem Thurgau, und das auch noch aus unmittelbarer Nachbarschaft.

Toplage Ottenberg

Der Ottenberg bei Weinfelden hat in den letzten Jahren einen gewissen Ruhm über die Kantonsgrenzen hinaus erlangt. Gleich vier Top-Produzenten sind hier zu finden: das Schlossgut Bachtobel, Michael Broger, das Weingut Burkhart sowie das Weingut Wolfer. Bei der erwähnten Müller Thurgau Trophy waren es in diesem Jahr Wolfer und Broger, die die ersten Plätze belegten. Bei der letzten sowie der vorletzten Ausgabe war jeweils das benachbarte Schlossgut Bachtobel auf dem Treppchen zu finden, das in diesem Jahr auf eine Teilnahme verzichtete.

Der Ottenberg ist ein nach Süden ausgerichteter Höhenrücken und erstreckt sich über knapp sechs Kilometer. Rund 55 der 260 Hektar Rebland im Kanton Thurgau befinden sich hier – ein Zufall kann das nicht sein. Doch einen typischen Terroirausdruck im Sinne einer Gleichschaltung des Weinstils unter den Produzenten sucht man am Ottenberg vergebens. Alle vier Top-Produzenten am Berg haben ihren ganz eigenen Weg und Stil gefunden, und das betrifft längst nicht nur die Weine aus der Sorte Müller-Thurgau, sondern insbesondere die aus der Sorte Pinot Noir. Der renommierteste Betrieb ist zweifelsohne das Schlossgut Bachtobel, das elegante Weine von burgundischer Finesse hervorbringt. Michael Broger hingegen übt sich in Zurückhaltung und keltert so einige der bemerkenswertesten Naturweine des Landes.

Irgendwo dazwischen steht das Weingut Burkhart, wo Michael Burkhart naturnahen Weinbau mit einem eigenständigen Sortenspiegel betreibt, die Vinifikation ist genauso zurückhaltend wie solide. Einen ganz anderen Stil verfolgt der stille Weinmacher Martin Wolfer, der mit seinen kräftigen, sor­tentypischen, aber ebenso eleganten, ausdrucksstarken Weinen die Verkoster und Kunden immer wieder aufs Neue begeistert. Eine derartige Vielfalt auf so kleinem Raum ist in wenigen Weinregionen zu finden. Warum das am Ottenberg möglich ist, ist schwer zu sagen, könnte aber mit der Gesamtstruktur der Region zusammenhängen, wo der Charakter des einzelnen Winzers lange im Hintergrund stand.

Der Thurgau ist wie die gesamte Deutschschweiz von Kellereien geprägt, von traubenverarbeitenden Betrieben also, die Trauben bei Bauern kaufen und daraus Weine in großem Stil keltern oder aber die Trauben als sogenannte Lohnkelterung separat für die Traubenproduzenten verarbeiten. Diese Weine werden dann meist unter eigenem Etikett angeboten, der Konsument merkt also nicht unbedingt, dass hier eine Zusammenarbeit zwischen einem Bauern und einem Verarbeiter stattgefunden hat. Selbstkelterer sind bis heute in der Unterzahl. Individualität ist in so einem System schwer möglich und die Entwicklung am Ottenberg vielleicht so etwas wie eine Gegenbewegung dazu.

Zu den wichtigsten Kellereien und Lohnkelterern in der Region gehört Rutishauser in Scherzingen. Das 1886 gegründete Unternehmen ist nicht nur als Kellerei, sondern insbesondere auch im Weinhandel tätig und gehört heute zu einem der größten Schweizer Unternehmen in der Branche. Michael Balmer, Betriebsleiter Önologie, kennt die meisten Rebberge im Kanton aus eigener Erfahrung, verarbeitet aber auch Trauben aus Graubünden oder dem Kanton Zürich. Seit mehr als zehn Jahren ist er bei Rutishauer tätig, sein Reich ist ein für Auswärtige eher unübersichtliches Labyrinth aus Kellern, Schläuchen, Tanks und Fässern aller Größen, denn schon Kleinstmengen baut Rutishauser für seine Kunden separat aus.

Bemerkenswert ist insbesondere die Entwicklung der eigenen Produkte, die sich durchaus mit der Arbeit der Selbstkelterer in der Region vergleichen lässt. Die neuen Rutishauser-Weinserien Signum und Icon zielen auf die Herkunft der Trauben ab. Die zwei Icon-Weine aus Müller-Thurgau sowie Pinot Noir stammen aus je einer Top-Parzelle des Weinbergs Stadtschryber beim Ort Hüttwilen. »Der berühmte Ottenberg ist lange nicht die einzige Toplage im Kanton, neben dem Stadtschryber sind auch der Iselisberg bei Uesslingen oder die Trottenhalde bei Neunforn top«, erklärt Michael Balmer gegenüber Falstaff.

Wer sich etwas genauer mit dem Thurgau und seinen Weinen beschäftigt, stößt immer wieder auf neue Highlights. Neben dem schweizweit bekannten Bio-Weingut Lenz am besagten Iselisberg oder den Weinen der Kartause Ittingen etwa auf das Weingut Saxer in Nussbaumen. Bis 1973 bewirtschaftete die Familie einen für die Gegend typischen Landwirtschaftsbetrieb mit Ackerbau, Milchwirtschaft und Rebbau. Die Trauben lieferte man an eine Kellerei. 1974 wurde dann der Grundstein mit einem Neubau für einen reinen Winzerbetrieb samt Eigenkelterung gelegt. Eine Entwicklung, die in dieser Gegend nicht selten ist. Viele Betriebe im Thurgau bauen bis heute nicht nur Trauben an. Schließlich sind es nicht die Trauben, sondern die Äpfel, mit denen die meisten den Thurgau verbinden. Doch das könnte sich bald ändern.

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Benjamin Herzog
Benjamin Herzog
Chefredaktion Schweiz
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