© horatiuliade/Shutterstock

Turkey Tales: Thanksgiving der Superlative

Warum das Dinner einer genauen Choreographie folgen muss, was die neuen Fertigfüllungen können und warum Kürbisse heuer weiß, grün und voller Warzen sein müssen.

In letzter Minute sind »Chocolate« und »Chip« dem Bräter entkommen. Die Namen sind jene der beiden Truthähne, die der US-amerikanische Präsident Joe Biden im vergangenen Jahr kurz vor Thanksgiving offiziell bei einem Festakt begnadigt hat. Ihnen erging es somit besser als rund 40 Millionen Artgenossen, die an dem hohen Feiertag – der US-amerikanischen Version des Erntedanks – in den USA gebraten und verspeist werden. Lieb gewonnene Traditionen. Derer gibt es rund um das jahrhundertealte Fest, das alljährlich am vierten Donnerstag im November gefeiert wird, viele.

Der Truthahn zählt ebenso dazu wie ein breites Repertoire an Beilagen – und wie die alljährliche »Macy’s Parade«. Die Parade der gleichnamigen Warenhauskette wuchs in den vergangenen Jahrzehnten zu einem Ereignis der Extraklasse an. Dutzende Künstler, Schweißer, Tischler und Ballon-Experten arbeiten das ganze Jahr über an gigantischen Wagen in Form von Riesen-Truthähnen oder drei Meter hohen Kürbissen. Ballons schweben über der Stadt, Blasmusik erklingt. Das Weihnachtsgeschäft ist offiziell eröffnet! Bis zu 3,5 Millionen Menschen säumen die Straßen von New York City und schauen sich das rund dreistündige Spektakel vor Ort an, 50 Millionen sitzen zu Hause vor dem Fernseher. Viele andere Traditionen sind kulinarischer Natur. Das Thanksgiving-Fest, das die US-Amerikaner meist im großen Familienkreis feiern, folgt einer genauen lukullischen Choreografie. Ein saftiger, gut gewürzter und gebratener Turkey ist dabei das Herzstück, der Star der meisten Festivitäten. Damit das Essen gelingt, stehen die Amerikaner stunden-, wenn nicht tagelang in der Küche. Opulenz ist das Motto. 

Die traditionelle Thanksgiving-Parade ist jedes Jahr ein gelungenes Spektakel.
Foto beigestellt
Die traditionelle Thanksgiving-Parade ist jedes Jahr ein gelungenes Spektakel.

Die inneren Werte zählen

Zur Zubereitung des Vogels gibt es wohl ebenso viele Meinungen wie Familien in den USA. Die größten Truthähne – bis zu elf Kilo bringen sie auf die Waage – landen bis zu fünf Stunden im Rohr. Da bedarf es einer Technik, um sie saftig zu halten und mit knuspriger Haut an den Tisch zu bringen. Es gilt, alte Rezepte zu bewahren und zu perfektionieren. Das Anschneiden gleicht dann einem Festakt. Entscheidend ist freilich auch die Füllung, das sogenannte »Stuffing«. Wer als US-amerikanische Hausfrau oder als Hausmann etwas auf sich hält, bereitet diese natürlich selbst zu. Genaue Rezepturen werden dabei nicht selten als Familiengeheimnisse gehütet, Basiszutaten sind Semmelwürfel, Gemüse, Gewürze und Suppe. Die Füllung wird entweder im Truthahn mitgebraten oder separat als Beilage serviert.

Und wiewohl der Truthahn im Nord­osten des Landes ebenso beliebt ist wie im Südwesten, zeigen sich spätestens bei der Füllung die regionalen Vorlieben. Im Süden wird gerne kräftiger gewürzt, es gibt Füllungen mit Chorizo, Chili und sogar Corn Bread – also Maisbrot –, das die Semmelwürfel ersetzt. Für ganz Eilige bieten Supermärkte und Delikatessläden in den Tagen vor Thanksgiving mittlerweile übrigens auch Fertig-Füllungen an. Nur erwischen lassen sollte man sich von der Festgesellschaft dabei wohl nicht. Auch die Auswahl der Beilagen ist äußerst reichhaltig. Besonders beliebt sind Kartoffel- oder Süßkartoffelpüree, ein Auflauf mit grünen Bohnen, Cranberrysauce, Maisbrot, Kartoffelgratin, Kürbiskuchen oder Pekannuss-Torte.

Und immer öfter wird auch Rotkraut als Beilage serviert. Wer gar nicht selbst kochen will, der geht mit seinen Liebsten essen – zum Beispiel zu Charlie Palmer. Der New Yorker Küchenchef wurde in den letzten Jahren von der James Beard Foundation zum »Best Chef of America« gekürt. Das »Charlie Palmer Steak House« unweit des Times Square, zwischen Broadway und Bryant Park, bietet ein Thanksgiving-Menü für 95 Dollar pro Person. Als Hauptgang gibt es (selbstverständlich) gebratenen Truthahn. Alternativ können Gäste aber auch Dry Aged Prime Rib oder gegrillten Lachs wählen. Bei Starkoch Jean-Georges Vongerichten im nach ihm benannten »Jean-Georges« am Columbus Circle kommt das zehngängige Tasting-Menü auf 388 Dollar pro Person.

Sein legeres Bistro »Nougatine«gleich nebenan bietet ein dreigängiges Thanksgiving-Menü à la carte für 188 Dollar. Klar ist in beiden Fällen der Truthahn auch hier auf der Karte. Im »Nougatine« zum Beispiel mit Kastanien-Foie-gras-Füllung und Blutorangen-Cranberry-Sauce. Als Alternative stehen ein mit Speck gebratenes Schweinekotelett oder Rinderfilet auf der Karte. Fischfans kommen mit Hummer aus Maine oder Wolfsbarsch mit Kohl, Jungkartoffeln und schwarzen Trompetenpilzen ebenfalls nicht zu kurz. Und für Vegetarier gibt es Herbstgemüse. Rechtzeitig reservieren ist zu Thanks­giving dringend zu empfehlen. Viele ­Restaurants sind geschlossen. Oder es heißt: Öffnungszeiten 12 bis 22 Uhr.

Zubereitungsarten und Rezepte für Füllungen des Truthahns werden wie ein Schatz gehütet.
© Bochkarev Photography/Shutterstock
Zubereitungsarten und Rezepte für Füllungen des Truthahns werden wie ein Schatz gehütet.

Erste Thanksgivings

Auf den ersten Blick ist Thanksgiving mit dem deutschen Erntedankfest vergleichbar, allerdings ist der US-amerikanische Natio­nalfeiertag gesellschaftlich sehr viel tiefer verwurzelt und wird von viel mehr Menschen tatsächlich begangen. Im Herbst 1621 feierten europäische Pilger, die in Neuengland an der Ostküste der USA angekommen waren, mit den Wampanoag – den indianischen Einwohnern der Region – ein dreitägiges Fest: Die Ureinwohner versorgten sie mit Lebensmitteln, lehrten sie ihre Techniken des Ackerbaus und halfen ihnen so, den Winter zu überstehen. Gefeiert wurde mit Truthahn, Mais und Süßkartoffeln. So will es zumindest die Legende.

Wenn Diane Schwindt das hört, schüttelt sie energisch den Kopf: »Truthähne kamen erst im 18. Jahrhundert so richtig auf den Tisch.« Schwindt ist »Historic Tavern Cook« im historischen »Terry-­Ketcham Inn« auf Long Island. Das 1693 erbaute, historische Gasthaus war früher ein beliebter Rastplatz für Postkutschen, sogar US-Präsidenten wie Thomas Jefferson wurden hier schon verköstigt. Heute kocht Schwindt in der historischen Küche regelmäßig für 20 Gäste gleichzeitig. Und zwar so wie damals, mit alten gusseisernen Kesseln über dem Feuer. Da würde wohl so mancher Sternekoch scheitern. Denn es gibt keinen Schalter, mit dem man die Temperatur regeln kann. Sie kontrolliert die Temperatur, indem sie die Töpfe mal niedriger, mal höher über das Feuer hängt. Und sie unterrichtet in Workshops, was früher wirklich zu Thanksgiving gegessen wurde: »Die Siedler haben zwar Truthähne gejagt. Aber die Vögel laufen ziemlich schnell und mit den Gewehren damals konnte man nicht so genau treffen.« Überhaupt gibt es nur zwei Dokumente aus jener Zeit, die sich mit Essen beschäftigen. Und aus ihnen ergibt sich, dass die Siedler wohl eher Gänse, Enten, Reh, Barsch und Heilbutt gejagt und gegessen haben.

Entgegen der kollektiven Annahme, wurde bei den ersten Thanksgiving-Feierlichkeiten kein Truthahn gereicht, sondern eher Wild.
© Tory Kallman/Shutterstock
Entgegen der kollektiven Annahme, wurde bei den ersten Thanksgiving-Feierlichkeiten kein Truthahn gereicht, sondern eher Wild.

Feiertag für den Frieden

Erst US-Präsident Abraham Lincoln erklärte Thanksgiving 1863 zu einem Nationalfeiertag. Damals suchte er wegen des drohenden Bürgerkriegs zwischen Nord- und Südstaaten nach einem Feiertag, der alle US-Amerikanerinnen und US-Amerikaner vereinigen würde. Ganz nebenbei erfüllte er so auch der Schriftstellerin und Aktivistin Sarah Hale ihren großen Wunsch. Sie hatte den Feiertag mehr als 40 Jahre lang bei verschiedenen Präsidenten promotet. Und sie tat noch etwas: In ihren Artikeln stellte sie den Truthahn in den Mittelpunkt ihrer Festessen und beeinflusste damit schon damals viele Frauen in den USA.

Mit der Wende des 19. Jahrhunderts wurde der Truthahn dann in breiten Kreisen zu einem beliebten Gericht für Anlässe wie Thanksgiving. Dafür gibt es mehrere Gründe. Der vielleicht trivialste: Es gab in den USA damals schlichtweg sehr viele Truthähne. Zudem schlachtete man Kühe und Hühner nur ungern, solange sie nützlich waren und Milch und Eier produzierten. Und: Schon ein einzelner Truthahn ist normalerweise groß genug, um eine ganz Familie zu ernähren. Heute besinnen sich immer mehr Familien der ganz frühen Anfänge, berichtet Patrick Peralta. Er ist Manager auf der »Broken Arrow Ranch« im Hügelland von Texas, rund 100 Kilometer von San Antonio entfernt. Die Ranch beliefert Küchenchefs von Hawaii bis New York mit frischem Fleisch. Und Peralta weiß: Als Alternative zum Truthahn werden immer öfter Rehfleisch, Wachteln, aber auch Wildschwein bestellt. Und damit genau das, was die ersten Pilger damals gegessen haben.

Der ehemalige US-Präsident Abraham Lincoln suchte nach einer Möglichkeit die Bürger:innen zu einen.
© Tanarch/Shutterstock
Der ehemalige US-Präsident Abraham Lincoln suchte nach einer Möglichkeit die Bürger:innen zu einen.

Neue Kürbis-Trends

Ein Letztes noch: Was wäre Thanksgiving ohne die passende Dekoration? Eben. Auch hier zeichnet sich ein neuer Trend ab. »Die orangen Kürbisse sind out. Die will keiner mehr«, sagt Suni, ein Händler am kultigen Blumenmarkt auf der 28th Street, zwischen 6th und 7th Avenue in New York. Hier kaufen die besten Restaurants und Floristen der Stadt ihre Dekoration. »In sind große weiße und grüne Kürbisse. Oder die sogenannten Warzenkürbisse. Die werden jetzt extra so gezüchtet, weil sie so beliebt sind.«


Nichts mehr verpassen!

Melden Sie sich jetzt für unseren Newsletter an.

Erschienen in
Falstaff Nr. 09/2023

Zum Magazin

Angelika Ahrens
Angelika Ahrens
Autor
Mehr zum Thema