Die Magie des Augenblicks – neues Leben tritt in die Welt: Das sogenannte Frühlingserwachen hat  seit je die Menschen in seinen Bann gezogen.

Die Magie des Augenblicks – neues Leben tritt in die Welt: Das sogenannte Frühlingserwachen hat  seit je die Menschen in seinen Bann gezogen.
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Essay: Frühlingserwachen

Jedes Jahr aufs Neue überwältigt uns der Frühling mit seiner ungestümen Kraft – und ist damit der beste Lehrmeister, wenn es um Mut, Zuversicht und Genussfähigkeit geht.

Man spürt es: Es liegt zweifelsfrei etwas in der Luft. Dieses Etwas verheißt Leichtigkeit, Neubeginn und sanftes Licht; mehr Gefühl denn Gewissheit, erzählt es vom Ergrünen und Erblühen, ein milder Hauch schwebt durch das Land, noch sind es zaghafte Knospen und vorwitzige Blumen, die sprießen, bevor sie sich zu farbenfroher Blütenpracht entfalten. Es ist die lyrische Jahreszeit, die sich anschickt, auf breiter Flur ins Land einzuziehen.

Die Magie des Augenblicks

Das sogenannte Frühlingserwachen hat seit je die Menschen in seinen Bann gezogen. Es zieht sie hinaus aus den trüben Stuben, sie wollen ihre Lungen vollsaugen mit der sanften Luft, wollen Zeuge sein einer Wiedergeburt. »Wonnemond« heißt das bei Richard Wagner, dieses Versprechen, wie aus dem Nichts eine Fauna voller Fülle zu erschaffen. »Vom Eise befreit sind Strom und Bäche durch des Frühlings holden, belebenden Blick«, lässt Johann Wolfgang Goethe seinen Universalgelehrten Doktor Faustus schwärmen, als er bei einem Osterspaziergang vor den Toren der Stadt die ersten Sonnenstrahlen genießt. »Im Tale grünet Hoffnungsglück; der alte Winter, in seiner Schwäche, zog sich in rauhe Berge zurück.«

Wie die Natur muss man sich durch Widrigkeiten hindurchkämpfen, vernichtet auch ein Hagelschlag aufgekeimte Erwartungen.

Insgeheim, das spürt Faust, als er über Felder und Wiesen schreitet, ist jetzt die Zeit, in der ein Mensch leicht und lebenslustig zu seiner Bestimmung finden kann. Bei ihm, dem zweifelnden Suchenden, wird sie zwar mit einem teuflischen Pakt eine verhängnisvolle Wendung nehmen, was aber nicht heißt, dass Faust am Ende seiner Lebens-Odyssee nicht doch noch seine Erfüllung findet. Bis in die letzten Nervenfasern erfasst im Frühling die meisten Erdenbürger Tatendurst und Schaffenseifer. Sie leben ja synchron zur Natur und möchten es ihr gleichtun, sie wenn möglich sogar übertreffen.

Man soll es nicht verschweigen, im Frühling knistern auch erotische Erwartungen. Nicht zufällig spielen so viele Liebesgeschichten in dieser Zeit des Erwachens. Jetzt ist nicht die Stunde, um an Reife und Ernte zu denken, zeitlos verzaubert schwebt man auf leichten Schwingen durch die Tage. Sie sind gezählt, das weiß man ja, wie im Flug werden sie vergehen, aber wer will sich denn damit belasten, während er oder sie die Magie des Augenblicks auskostet? Mag so manche Liebende und so mancher Liebender schon bald wieder ernüchtert sein, mag so mancher Wunschtraum in der brütenden Hitze späterer Monate verfliegen – im milden Licht des Frühlings reicht der Blick nicht über den Horizont hinaus. Natürlich, es ist eine törichte Jahreszeit, die nur das Hier und Heute kennt.

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Jugendliche Aromen locken

Es sind vor allem die Genüsse des Frühlings, die eine so unwiderstehliche Faszination ausüben. Alles ist frisch und knackig. Vorbei das muffige Kellerkraut, jetzt locken jugendliche Aromen, Morcheln und junges Gemüse. Das hat sich tief in das kollektive Bewusstsein eingegraben. Und selbst zu einer Zeit, in der fast jedes Lebensmittel das ganze Jahr über verfügbar ist, hat das kulinarische Frühlingsgefühl nichts von seiner Anziehungskraft verloren. Die Frühlingskost verhält sich ja deckungsgleich zum Lebensgefühl – erfüllt von Schwerelosigkeit und einer geradezu unverschämten Heiterkeit. Ein grüner Schleier liegt über den Gerichten, die Speisen erzählen von unbändigem Optimismus und Zukunftsfreude.

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Fehlschläge? – Was soll’s!

Zugleich erinnert der Frühling immer wieder daran, wie trügerisch dieses Phlegma sein kann, als wollte er mit einem warnenden Zeigefinger sagen: Lieber Freund, glaube ja nicht, das alles wird von Dauer sein. Doch die Mahnung ist rasch in den Wind geschlagen. Was wollen Wetterumschläge, Kälteeinbrüche, was wollen all die grimmigen Eisheiligen gegen die unbeschreibliche Leichtigkeit des Seins ausrichten?

Die Dominanz des Unbeschwerten führt allerdings auch dazu, dass der Frühling eine Zeit des Leichtsinns ist. Nichts scheint unmöglich, wenn Saft und Kraft anschwellen, selbst pubertäre Verwirrungen im Lebensfrühling sind nicht in der Lage, nachhaltige Zweifel zu schüren. Es heißt nur, hurtig an die Tat zu gehen und, der Natur folgend, vollendete Tatsachen anzuvisieren. So mancher neigt in diesem Gefühl der Unbesiegbarkeit dazu, sich selbst zu überschätzen.

Drohende Katastrophen werden achselzuckend vom Tisch gewischt, Anzeichen von Gefahren als dumme Irritationen verniedlicht. Und merkwürdigerweise werden spätere gescheiterte Frühlingspläne häufig gar nicht als Fehlschlag wahrgenommen. Es ist das junge Jahr, und da ist vieles einen Versuch wert. Wie die Natur muss man sich nur durch Widrigkeiten hindurchkämpfen, und mitunter vernichtet eben ein Hagelschlag die aufgekeimten Erwartungen.

Diese Möglichkeit hält den Frühling auch nicht davon ab, immer wieder aufs Neue die Landschaften zu beleben. Im Jahreslauf ist er der stürmische Jüngling, der es auf sich genommen hat, eine Welt, die nur darauf wartet, wie eine schlafende Geliebte wachzuküssen. Allein schon dieses Schauspiel belebt die Sinne der Menschen. Und an manchen verzauberten Frühlingstagen ergeht es ihnen wie dem Osterspaziergänger Faust, der einmal zum Himmel fleht: »Zum Augenblicke dürft’ ich sagen: Verweile doch, du bist so schön!«

Erschienen in
Falstaff Nr. 02/2021

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Joachim Riedl
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