Alte Knorze, hoch aromatische und prall gesunde Früchte: Wurzelechte Rebstöcke, die noch aus der Zeit vor der Invasion der Reblaus stammen, sind mindestens 120 Jahre alt.

Alte Knorze, hoch aromatische und prall gesunde Früchte: Wurzelechte Rebstöcke, die noch aus der Zeit vor der Invasion der Reblaus stammen, sind mindestens 120 Jahre alt.
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Wurzelechte Reben: Auf der Suche nach dem Heiligen Gral

Seit der Reblaus-Invasion sind Rebstöcke, die auf ihren eigenen Wurzeln wachsen, vom Absterben bedroht. Doch die Suche nach dem urtümlichen Weingeschmack führt immer wieder zu den wurzelechten Reben zurück.

Der Übeltäter ist nur einen halben Millimeter groß – doch er war groß genug, um während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf dem gesamten europäischen Kontinent Hunderttausende Hektar von Reben zu vernichten. Das Wüten von Daktulosphaira vitifoliae, einer Spezies aus der Familie der Zwergläuse (Phylloxeridae) war so einschneidend, dass der Weinbau seither ein anderes Gesicht besitzt. Und irgendwie seine Wurzeln verloren hat: Denn die scheinbare Selbstverständlichkeit, dass ein Rebstock mit seinem eigenen Wurzelwerk im Erdreich steht, ist seit dem Angriff der Reblaus auf die Wurzeln der europäischen Edelreben dahin.

TOP 3 WEINE

Nach der Invasion des Schädlings nahmen die Winzer zu den bizarrsten Methoden Zuflucht, um ihn wieder loszuwerden: Sie überschwemmten ihre Weinberge mit Wasser, versuchten mit Schwefelinjektionen ins Wurzelwerk jedes einzelnen Rebstocks der Plage Herr zu werden oder hofften – wie auf Château Latour – dass eine Düngung der Stöcke mit gemahlenem, verkohltem Leder die Rebstöcke retten könne. Alles vergebens! Am Ende erwies sich nur das Pfropfen des europäischen Edelreises auf die Wurzel (»Unterlage«) einer resistenten amerikanischen Rebenspezies als hilfreich. Denn auf dem amerikanischen Kontinent lebten Wildreben seit ewigen Zeiten mit den Läusen zusammen. Ihr Wurzelwerk wurde im Lauf der Evolution in ständigem Kontakt mit den Rebläusen so faserig, dass sie eine Resistenz gegen die potenziell schädigenden Piekse der Läuse erlangten. Europäische Rebsorten hingegen, die im Lauf der Evolution nie mit einem solchen Parasiten konfrontiert waren, sind ihm schutzlos ausgeliefert: Die Rebläuse setzen sich in den Wurzeln fest, saugen diese aus und vermehren sich reichlich. Im Sommer wandert eine Generation geflügelter Läuse auch auf die Blätter. An allen möglichen Stellen entziehen die Insekten der Pflanze so viel Lebenskraft, dass die Stöcke nach wenigen Jahren eingehen. Durch das Pfropfen (»Veredeln«) hingegen entsteht ein aus zwei Teilen zusammengewachsener Rebstock: Er besitzt eine Wurzel, der die Rebläuse nichts anhaben können, und über der Erde wachsen Trauben der geschmacklich komplexeren Europäersorte heran. 

Mythos Wurzelecht

Heute funktioniert der Weinbau fast überall auf unserem Planeten genau und ausschließlich so. Selbst in Regionen, die kaum von der Reblaus betroffen waren – beispielsweise in Teilen Chiles, Australiens oder Argentiniens –, ist es üblich, gepfropfte Reben zu verwenden. Zu groß wäre selbst dort das Risiko, größere Reblaus-Populationen geradezu »einzuladen«, indem man ihnen ein Schlemmermahl in Form europäischer Rebwurzeln offeriert.

Allerdings stellten die Winzer schon sehr früh fest, dass die artfremde Wurzel die Weinqualität verändert. Manche Weingüter wehrten sich lange Zeit gegen das Pfropfen: Die Domaine de la Romanée-Conti beispielsweise versuchte noch bis 1945, die wurzelechten Reben ihrer Paradelage zu erhalten. Dann gab auch sie den Kampf auf, der in einem Lehmboden wie an der Côte-d’Or besonders hoffnungslos ist: Der Ertrag war trotz aller Anstrengungen auf 2,5 Hektoliter pro Hektar gefallen, also auf etwa ein Schnapsglas Wein pro Rebstock.

Der Verlust des urtümlichen Weingeschmacks ist dennoch ein Motiv, das auch heute noch vielen Winzern wie ein Stachel im Fleisch sitzt. Glücklicherweise ist der Geschmack der Weine aus wurzelechten Reben nicht komplett verloren, denn sehr vereinzelt haben sich wurzelecht gepflanzte Weinberge erhalten, um die die Reblaus einen Bogen macht. Den »heiligen Gral des Weinbaus« nennt der auf wurzelechte Reben spezialisierte Winzer Loïc Pasquet solche Anlagen. Im Jahr 2021 gründete er von seinem kleinen Weingut im Süden Bordeaux’ aus einen Verein mit internationaler Strahlkraft: »Francs de Pied«. Reben, die frei und ungepfropft im Weinberg stehen – das ist in den letzten Jahren geradezu ein Schlachtruf geworden.

Australiens Barossa Valley gilt auch heute noch als weitgehend reblausfrei: In den Weinbergen von Château Tanunda existiert noch ein 1858 wurzelecht gepflanzter Mischsatz.
Foto beigestellt
Australiens Barossa Valley gilt auch heute noch als weitgehend reblausfrei: In den Weinbergen von Château Tanunda existiert noch ein 1858 wurzelecht gepflanzter Mischsatz.

Pfropfen / Veredeln

Ein Rebstock nach Bausatz-Prinzip

Nachdem sich die Reblaus über ganz Europa verbreitet hatte, stellte man schon bald fest, dass die Wurzeln der amerikanischen Rebenspezies Vitis rupestris, Vitis riparia und Vitis labrusca gegen die Reblaus resistent sind. Da diese Reben jedoch nur minderwertigen Wein liefern, kam man auf die Idee, das europäische Edelreis auf eine amerikanische Wurzel zu pfropfen. Das Bild unten zeigt den »Omega«-Schnitt, durch den die beiden Teile – Unterlage und Edelreis – miteinander verbunden werden.

Andere Physiologie, andere Sensorik?

Ob Weine aus dem Ertrag wurzelechter Reben wirklich anders und besser schmecken, wird durchaus kontrovers diskutiert. Manche Kommentatoren halten diese Idee auch für sentimental und weisen darauf hin, dass die meisten wurzelechten Rebbestände in erster Linie sehr alt seien: Es sei gut möglich, dass sie alleine aufgrund dieser Eigenschaft einen besonders guten Wein erbrächten. Winzer wie Loïc Pasquet weisen jedoch mit einiger Plausibilität darauf hin, dass beispielsweise der Saftfluss im Stock ein ganz anderer ist, wenn es kein Nadelöhr im Stamm gibt, wie es an jener Stelle entsteht, an der die beiden Teile des Rebstocks aufeinandergepfropft wurden. Für diese Hypothese spricht auch, dass wurzelechte Reben offenbar deutlich besser mit Phasen der Trockenheit klarkommen, ganz offenkundig können sie das wenige verfügbare Wasser besser aufnehmen und dorthin transportieren, wo es benötigt wird. Egon Müller vom legendären Scharzhof an der Saar bringt den Vorteil der wurzelechten Pflanzung dann auch mit einer knappen Formulierung auf den Punkt: »Der Rebstock ist halt aus einem Stück.« Etwa ein Drittel der Rebstöcke in Müllers Teil des Scharzhofbergs sind noch wurzelecht, und er kann im eigenen Keller sehr direkt ihren Ertrag mit dem von gepfropften Reben vergleichen: »Das ist sensorisch eindeutig unterscheidbar: Wenn die Mostgewichte vergleichbar sind, ist der Wurzelechte immer besser.« 

ZUM GANZEN TASTING

Eine ähnliche Aussage über die Sensorik der Weine aus wurzelechten Reben schildert auch Mélanie Tarlant aus der Champagne: Den Ertrag ihres 30 Ar kleinen wurzelechten Chardonnay-Weinbergs würde sie jedes Jahr blind mit den Grundweinen aller anderen Parzellen verkosten – und die Trefferquote bei der Wiedererkennung dieses Weins liege bei 100 Prozent. 

Sand, Asche und Schiefer passen der Reblaus nicht

Loïc Pasquet zählt die Bodenarten auf, die die größte Chance haben, der Reblaus zu entgehen: »Sand, Schiefer, vulkanische Böden. Granit ist schon komplizierter, und alle Böden, die mehr als vier Prozent Lehm enthalten, werden unweigerlich von der Reblaus besiedelt.« Ganz frei von Lehm sind indes auch die Böden am Scharzhofberg nicht. »Die Alten sagten, die Wurzelechten hätten überlebt, weil der Boden zu mager ist«, referiert Egon Müller. »Aber ich glaube eher, dass der Grund in der Gleichmäßigkeit der Niederschläge liegt. Wenn man jeden Monat konstant 50 Millimeter Regen bekommt, dann sind die Reben immer gut versorgt und halten es aus, wenn sich die Rebläuse an den Wurzeln gütlich tun.«

Auch in Franken gibt es ein gutes Dutzend alte wurzelechte Weinberge, die meisten auf Muschelkalk, der in verwitterter Form einen durchaus lehmigen, tiefgründigen Boden ergibt. Philipp Luckert aus Sulzfeld beispielsweise besitzt einen solchen Weinberg: »Wir wissen selber nicht, warum der überlebt hat. Vielleicht, weil schon früh rund um diese Parzelle ein Wohngebiet entstanden ist und der Weinberg von der geschlossenen Rebfläche abgeschnitten wurde?» Loïc Pasquet wiederum hat die Erfahrung gemacht, dass ein paar Hundert Meter Abstand zu einer kontaminierten Fläche nicht ausreichen, um die Reblaus aus einem Weinberg fernzuhalten. »Die Sommergeneration der Rebläuse kann fliegen, für die sind auch ein paar Kilometer kein Problem.« 

Ganz sicher ist, dass die Rebläuse ein Problem mit Sand haben, möglicherweise ist seine Haptik sehr unangenehm für die kleinen Biester. John Geber beispielsweise vom Château Tanunda hat in einem seiner wurzelechten Weinberge im Eden Valley einen Boden, der, so sagt er, »aussieht wie Meeres­sand.« Auch im Schweizer Kanton Wallis stehen die alten wurzelechten Anlagen der Lokalsorte Heida bei Visperterminen und in einer Höhe von nahezu 1.000 Metern auf extrem sandigen Boden. »Der Lehmanteil ist verschwindend klein und der Sandanteil liegt bei 65 Prozent und mehr«, berichtet Michael Hock, der Geschäftsführer der kleinen Genossenschaft St. Jodern Kellerei. Sicher sei es, so Hock weiter, der »positiven Eigenheit der Leute« zu verdanken, dass dieser Rebberg noch existiere. Die Winzer »folgen einfach nicht blindlings behördlichen Angaben, solange keine akute Gefahr besteht und die Reben kerngesund sind.«

Ein Politikum

Ein Politikum sind wurzelechte Anlagen auf jeden Fall – ganz besonders, wenn sie neu angelegt werden. In Frankreich gab es in den vergangenen zwei oder drei Jahrzehnten immer wieder Versuche, neue Rebberge wurzelecht anzulegen. Didier Dagueneau hat es in Pouilly-Fumé versucht, mit wechselhaftem Erfolg. Philippe Charlopins wurzelechte Bourgogne-Pflanzung erlebt seit 2016 jedes Jahr beträchtliche Stockausfälle, die der Winzer bislang immer wieder durch Nachpflanzen ausgleicht. Die offizielle Weinbaupolitik sieht solche Experimente mit Missvergnügen, hat sie doch die Befürchtung, dass ein Wiederaufflammen größerer Reblauspopulationen im schlimmsten Fall die bisherige Resistenz der gepflanzten Unterlagen aushebeln könnte.

Einen ganz anderen Punkt macht der Naturhistoriker Marc-André Selosse, der vom Pfropfen als einem »nützlichen Zeitgewinn« spricht. Der Nachteil des Pfropfens sei jedoch, so Selosse in einem Aufsatz von April 2021, dass man den Lauf der Evolution dadurch quasi einzufrieren versuche, während sich die Parasiten weiterentwickelten. Man müsse aber unseren Rebsorten ebenfalls gestatten sich weiterzuentwickeln. Wer überdies an das Konzept des Terroirs glaube, könne auch darauf hoffen, dass es Terroir-spezifische Methoden geben könne, um die Reblaus in Schach zu halten. Unsere Fixierung aufs Pfropfen habe hier vielleicht die Tür für weitere Forschung vorschnell zugemacht.

Trotz solch wortmächtiger Fürsprache: Der Verein »Francs de Pied«, den Loïc Pasquet zur Förderung des Weinbaus mit wurzelechten Reben gegründet hat, hat es vorgezogen, nicht Frankreich als seinen Hauptsitz zu wählen – sondern Monaco, wo keine restriktive Weinbaupolitik gegen ungepfropfte Reben verfolgt wird. Fürst Albert II. sympathisiert mit den Verbandszielen und lud die Gründungsmitglieder des Vereins – neben Loïc Pasquet unter anderem Philippe Charlopin, Thibault Liger Belair und Egon Müller – ins Fürstentum ein. So wurde er zum Bannerträger einer Bewegung, der sich mittlerweile eine dreistellige Zahl von Weinbaubetrieben angeschlossen haben.

Dass wurzelechte Reben derzeit noch ein Randthema sind, hat indes auch sein Gutes, wie Javier Ybáñez Creus von Marquès de Riscal berichtet: »Einer unserer Mitarbeiter entdeckte irgendwo am Wegesrand einen ganz alten Weinberg, hielt den Wagen an und erkundigte sich, wem die Reben gehörten. Der Eigentümer habe, als er kontaktiert worden sei, den Weinberg bereitwillig zum Kauf angeboten: »Der produziert ja nichts!« Jetzt entsteht an diesem Ort ein Verdejo der Extraklasse. Gewiss, aus geringem Ertrag. Aber aus was für einem!


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Erschienen in
Falstaff Nr. 03/2023

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Ulrich Sautter
Ulrich Sautter
Wein-Chefredakteur Deutschland
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